bewegung

und raum

eine kulturwissenschaftliche rezension zur ausstellung 'baumeister der revolution'

 

von saskia göldner

 

Von der enormen Entwicklung in der russischen Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts geht bis heute eine unvergleichbare Faszination aus; vielleicht auch gerade weil die Denk- und Kunstansätze inhaltlich den derzeit gültigen so vertraut erscheinen. So besinnen sich beispielsweise Fotografen oder Architekten immer wieder gern auf die russische Avantgarde zur Gründungszeit der Sowjetunion. Das stark Beeindruckende jener Strömungen, mit deren einheitlichen Präsentation sich die Kunst- und Kulturgeschichte stets in besonderem Maße herausgefordert sieht, ist die allmähliche Auswirkung der gesamtpolitischen Umwälzung auf den Kunstraum. Deutlicher als in Nikolaj Tarabukins Broschüre Von der Staffelei zur Maschine (1922) hätte diese Revolutionierung des Kunstbegriffes wohl kaum formuliert werden können: "[…] wie sehr sich die eklektischen Kunstwissenschaftler auch entrüsten, was sie auch sagen mögen über die Entweihung der ‚heiligen' Kunst, sie können sie nicht im Käfig halten, sie zerreißt die Museumsketten und tritt siegreich ins Leben."

Im Martin-Gropius-Bau eröffnete am 5. April 2012 die Ausstellung "Baumeister der Revolution. Sowjetische Kunst und Architektur 1915-1935. Mit Fotografien von Richard Pare" (bis 9.7.2012), als deren Ideengeber der Museumsdirektor Gereon Sievernich den britischen Fotografen selbst nannte. Ihn habe die Interaktion zwischen der Sowjetunion und Westeuropa in der Architektur der Moderne interessiert, die"Interaktion zwischen der Sowjetunion und Westeuropa in der Architektur der Moderne" interessiert, die bisher nicht genügend erforscht worden sei - weder künstlerisch noch wissenschaftlich. Pare, der mittlerweile in den USA lebt, sieht den Unterschied vor allem in der engen Verbindung von Kunst und Politik bzw. Ideologie, sodass die Funktionalität der sowjetischen Bauwerke viel stärker betont ist, als es bei der westlichen Architektur dieser Zeit üblich war. So entstanden neben den vielen Fabriken, Kraftwerken und Industrieanlagen, die zur Modernisierung des Landes gebraucht wurden, auch Presse- und Verlagsgebäude, Arbeiterclubs, Gewerkschaftshäuser, kollektive Wohnanlagen, Sanatorien, Großkaufhäuser sowie Partei- und Verwaltungsbauten. Es wurden neue Gebäude für eine neue Gesellschaft gebraucht. Dieser sozial-funktionale Impetus wird erst für die Nachwelt sichtbar, denn ohne die Erfüllung ihres Zweckes stellt sich die Frage nach der Nutzung solcher Gebäude.

Richard Pare vor Bäckerei-Innenansicht (Bauingenieur Georgi Marsakow), 1931/1999

Der veränderte Raumbegriff in der russischen Avantgarde ist nicht nur in den konkreten architektonischen Räumen nachzuweisen, sondern weitestgehend in allen Strömungen der Bildenden Kunst jener Zeit. Gemäß den Vorstellungen der Avantgardekünstler selbst kann man kulturwissenschaftlich gesehen diese Veränderung als Bewegungsbestreben der Kunst in den öffentlichen Raum des Alltags beschreiben. Im Sinne einer ausgestellten Handlung lässt sich die historische Avantgarde in der performativen Kulturanthropologie dann nämlich doch als etwas Einheitliches zusammenfassen. Angefangen vom russischen Futurismus, der vermehrt Objekte zerstört, um eine Dynamik zu erzeugen, wird die "rein malerische Bewegung" (Kasimir Malewitsch, 1915) in Gang gesetzt. In ähnlicher Weise ist diese Rebellion des futuristischen Dynamismus, malerische Massen aus den Gegenständen zu befreien, im Kubismus wiederzufinden. Der "Schritt zur Vernichtung der Gegenständlichkeit" führte nach Malevitsch damit zur reinen Malerei. Der Suprematismus war seiner Ansicht nach dann das komplett neue malerische Schaffen, ein gegenstandsloses Schaffen: "Der Raum ist ein Behälter ohne Maß, in ihm schafft der Geist sein Werk."

Kubofuturistische und konstruktivistische Werke der russischen Avantgarde im Martin-Gropius-Bau (links: Ljubow Popowas "Malerische Architektonik", 1921)

Im Zuge der Oktoberrevolution 1917 und dem Aufbau einer neuen Gesellschaft, der u.a. von vielen politisch engagierten Künstlerinnen und Künstler unterstützt wurde, vollendet die so genannte Revolutionskunst das Streben der Avantgardekunst in den Alltagsraum bis sie die Doktrin des Sozialistischen Realismus im Jahr 1932/1934 gewaltsam "von oben" zur institutionalisierten Kulturpolitik erklärt. Unter Stalin erreicht diese Bewegung so gesehen nämlich ihr Ziel, in dem sie "erstarrte". Die offizielle Kunst sollte mit dem sozialen und politischen Raum vollkommen vereint werden. Stalin wird laut Boris Groys sogar als künstlerischer Erbe der Avantgarde aufgefasst, da er "Kunst um der Schaffung eines neuen Lebens willen" begriff. In der Sowjetischen Verfassung von 1936 sollte die geschaffene ökonomische Basis von einer als sozialistisch deklarierten Ideologie überbaut werden, was das Ende der avantgardistischen Entwicklungsgeschichte bedeutete.

Die bis zum Anfang der 1930er Jahre proklamierte Revolutionskunst bedeutete ein "Praktischwerden" der Kunst mit unterschiedlichen Funktionsbestimmungen. Die Produktionskunst war das räumliche Ziel der Bewegung, in der Tarabukin dem Künstler als "Kunst-Ingenieur" oder "Kunst-Arbeiter" die gesellschaftliche Funktion des Arbeiters zuschrieb. Sie barg verschiedene neue Formen, wie die "Kunst in der Produktion" bzw. die "Produktionsmeisterschaft, […] eine praktische, reale Tätigkeit" - ein Begriff, der auf Kunst als Handwerk referiert. "Der ‚Inhalt' wird hier zu Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit des Produkts.", erklärte Tarabukin. Mit ihr versprach er eine "Ablösung der etablierten Kunstformen durch den Bedürfnissen des Alltags entsprechende Formen, durch die zweckmäßigen und praktisch notwendigen Formen einer Kunst, […] die den äußeren Alltag konstruiert und gestaltet" und damit einen Ausweg aus der gesellschaftlichen Krise. Die in der Form konstruktive Produktionsmeisterschaft war außerdem kollektivistisch im schöpferisch-prozessualen Akt. Dabei wurde das Akademische strikt abgelehnt. Mit Produktionskunst meinte Tarabukin die "verwandelte Produktion von Gütern der materiellen Kultur", d.h. das erneute Einlösen der sozialen Bestimmung und Funktionalität für den abhanden gekommenen Sinn bzw. Inhalt der bis hin zum Suprematismus in Formalität überhöhten Kunstrichtungen.

Die Folgen der avantgardistischen Bewegungsaufforderung ergriffen gleichsam die Fotografie, die Kunst der zweidimensionalen Wahrnehmung von Raum. Beispielsweise in den Gebäudefotografien von Alexander Rodtschenko ist die starke Einflussnahme der neuen Politik und der dazugehörigen Gebäude auf das Subjekt unübersehbar. Frosch- und vogelperspektivische Ansichten sowie knappe, prägnante Ausschnitte werfen schräge, dynamische Linien über die konstruktivistisch geprägten Kontraktkompositionen.

Rodtschenko, der als Maler, Zeichner, Gebrauchsgrafiker, Designer, Fotograf, Fotomonteur und Pädagoge sich in der sowjetischer Kunstszene vielseitig einen Namen machte - ihm wurde 2008 eine Ausstellung im Martin-Gropius-Bau gewidmet -, proklamierte das "Neue Sehen". "Wir müssen unser optisches Erkennen revolutionieren. Wir müssen den Schleier von unseren Augen reißen, der vom Nabel aus heißt. ‚Fotografiert von allen Positionen aus, nur nicht vom Nabel, bis all diese Positionen erkannt sind.' ‚Und die interessantesten Blickwinkel sind die von oben nach unten und von unten nach oben und ihre Diagonalen.'" (Rodtschenko, 1928; zit. n. Philipp). Er bevorzugte Schnappschüsse, um die Authentizität und Glaubwürdigkeit der Kunstfotografie zu bewahren. Im Zuge dieser antiakademischen Bewegung gründeten sich beispielsweise auch zahlreiche Amateurfotografenvereinigungen.

Nicht nur dass Rodtschenko sich als einen wesentlichen Beitrag zur Abstraktion in der Malerei vermehrt Raumkonstruktionen widmete und 1921 das Ende der Tafelmalerei mit dem Triptychon "Glatte Farbe (Reine rote Farbe; Reine gelbe Farbe; Reine blaue Farbe)" propagierte, so sorgte vor allem das "Neue Sehen" für einen radikalen Bruch in der Kunstfotografie um die Jahrhundertwende - sowohl in der UdSSR, als auch in der Weimarer Republik. Der revolutionierte fotografische Blick diente zur Schaffung des neuen Menschen, zur Erziehung seiner Sinne, besonders seiner visuellen Wahrnehmung. Rodtschenko erklärte damals die Veränderung der Psychologie der Wahrnehmung mit der Modernisierung der Stadt, die vielgeschossige Häuser, Werksanlagen, Fabriken, Straßenbahnen, Ozeandampfer und Flugzeuge nach sich zog. Das Neustrukturieren und -konstruieren der Bildwirklichkeit war damit nicht nur selbst Teil der Bewegung, sondern auch wieder Folgeerscheinung der sowieso schon "bewegten" Gesellschaft.

Richard Pares Dokumentation sowjetischer Avantgarde-Architektur (links: Melnikow-Haus, 1927-1931/1998)

In Bezug auf die Ausstellung "Baumeister der Revolution" stellt sich nun die Frage, ob die Fotografien von Richard Pare als eine Art "rebuildung", lediglich als eine Ehrung oder gar als Wiederaufleben der alten Zeiten gemeint sind. Pares Aussage zufolge seien sie eine "heroic photographic campagne", was bei mir die Suche nach Vermarktungsstrategien hervorruft. Geprägt von Wettbewerb, Werbung und Markt finden derart Gebäude in der postkommunistischen Kultur keine Verwendung und können höchstens selbst als recycelte - leider nicht fachgerecht restaurierte - Relikte vergangener Zeiten vermarktet werden. Prominente Beispiele dafür sind das Zentrum für Zeitgenössische Kultur "Garage", gegründet 2008 von Darja Schukowa, oder das Melnikow-Haus. "It's beautiful, but it has lost its identity!", so Irina Korobina, Direktorin des Staatlichen Architekturmuseums A.V. Schtschusew in Moskau, die sich sehr ambitioniert gegen Scheinrestauration und für die Präsentation von russischer Kulturgeschichte einsetzen will. "We struggle for that!", ruft sie nach abermaliger Darstellung der unzureichenden Kulturförderung von staatlicher Seite auf der Pressekonferenz im Martin-Gropius-Bau laut in den Saal.

Pare, Korobina, Sievernich, MaryAnne Stevens (Direktorin der Royal Academy London), und Maria Tsantangolou (Direktorin des Staatsmuseums für Zeitgenössische Kunst Thessaloniki) (v.li.n.re.) auf Pressekonferenz

In meinen Augen sind Pares Fotoarbeiten eine archäologische Dokumentation der ausgeführten Bewegung, für dessen mögliches Reenactment es im Übrigen bereitwillige Akteure gibt, das Publikum im eigenen Land jedoch fehlt. Pares Perspektiven sind zwar teilweise das "Neue Sehen" imitierend, stellen aber ganz offensichtlich die Zeitspuren und ästhetische Komponenten zur Schau, die nicht zuletzt von Fremdwahrnehmung bestimmt sind.

Richard Pares Dokumentation sowjetischer Avantgarde-Architektur (Mitte: Narkomfin-Gemeinschaftswohnanlage, 1929-36/1995)

Betrachtet man die beschriebene Bewegung der Kunst in einem Längsschnitt bis ins 21. Jahrhundert, so lässt sich ihre Fortsetzung durchaus weiter beschreiben. So wie die Kunst Anfang des 20. Jahrhunderts aus der Akademie und dem Museum in den Alltagsraum treten und die Produktionskunst den abhanden gekommenen Inhalt in künstlerischen Werken mit der sozialen Aufgabe kompensieren sollte, ist das Bewegungsbestreben der zeitgenössischen Kunst nach der Erstarrung im Sozialistischen Realismus und der jahrzehntelangen Arbeit im Untergrund heute auf ähnliche Weise zu beobachten. Besonders Performances und Aktionen wollen die Kunst aus restriktiven Institutionen erneut in die unmittelbare Öffentlichkeit bewegen.

© fotografiert und verfasst von Saskia Göldner

Quellen:

Bachmann-Medick, Doris: Performative Kulturanthropologie. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen - Ansätze - Perspektiven. Stuttgart/Weimar: Metzler 2003, S. 91-93.
Gaßner, Hubertus: Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischen Realismus. Dokumente und Kommentare, Kunstdebatten in der Sowjetunion von 1917 bis 1934. Köln: DuMont 1979.
Groys, Boris: Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion. München/Wien: Carl Hanser 1996.
Groys, Boris (Hg.): Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005.
Hornborstel, Wilhelm; Kopanski, Karlheinz W.; Rudi, Thomas (Hg.): Mit voller Kraft. Russische Avantgarde 1910-1934, Kassel: Wintershall AG 2001.
Lawrentew, Alexander: Alexander Rodtschenko. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Martin-Gropius-Bau Berlin 12.6. - 18.8.2008. Berlin: nicolai 2008.
Malewitsch, Kasimir (1915): Vom Kubismus zum Suprematismus in der Kunst, zum neuen Realismus in der Malerei, als der absoluten Schöpfung; In: Groys, Boris (Hg.): Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, 188-199.
Nünning, Ansgar (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen - Ansätze - Perspektiven. Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 91-93.
Philipp, Claudia Gabriele: Die Revolution in der Fotografie: Alexander Rodtschenko und das
Neue Sehen. In: Hornborstel, Wilhelm; Kopanski, Karlheinz W.; Rudi, Thomas (Hg.): Mit voller Kraft. Russische Avantgarde 1910-1934. Kassel: Wintershall AG 2001, S. 205-208.
Tarabukin, Nikolaj (1922): Von der Staffelei zur Maschine; In: Groys, Boris (Hg.): Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 416-467.

Archiv:

10 Saskia Göldner "Bewegung und Raum"
09 Archi Galentz "USTA, has you got some ASTAR?"
08 Performance "Calligraphy Collaborations" 2006
07 Marina Gerzovskaya / WDNH
06 Andrei Loginov / Leo Vukelic "Mars Mission"
05 Viktor Nikolaev "Kunst und Werbung" Berlin Moskau 2003
04 Valentin Kozlov "Menschen und Plätze" Leningrad 1960
03 Alexander Tokarev "Berlin"
02 Igor Gorovenko "Geburt und Tod"
01 Polina Loginova "Kaukasus"

 

april 2012