"Berlin" - Alexander Tokarev
Das Berlin des Fotografen Tokarev ist menschenleer, erscheint schrillfarbig
und gleichzeitig banal alltäglich, ist eine Infektion, die vom
Gehirn aus das Sehvermögen befällt und zum nostalgischem Stehen
auf Eisenbahnbrücken verleitet.
Tropfen, Streifen und Flecken, regelrechte Fleckenkulturen ziehen sich
über manche Bilder. Der Eindruck des Unnatürlichen wird noch
durch die Farbauswahl unterstützt: ein grünstichiges Blau,
schreiendes Violett, ein verlaufenes Grünbraun. Auf den ersten
Blick könnte man irrtümlicherweise auch glauben, dass es sich
um alte Fotografien handle, die vielleicht einem chemikalischen Unfall
zum Opfer fielen.
Der Künstler, der vor über zwei Jahren aus einer norwegischen
Kleinstadt nach Berlin zog, hat auch ein paar Berlinsymbole aufgenommen,
die aber eher wie Schnappschüsse aus einem fahrenden Auto wirken
und alle stolze Symbolhaftigkeit verloren haben: ein total verrutschter
Reichstag, ein aus der Mittelachse heraus versetztes Altes Museum, ein
grauer Fernsehturm vor einer bröckelnden Hotelruine, der Potsdamer
Platz von Schlieren zugedeckt.
Häufiger fast sind die Straßenkreuzungen, die Haltestellen,
die Lampen und Brüstungen, die merkwürdigen Ecken, die aber
gerade ein wunderschönes und zutreffendes Berlingefühl evozieren.
Tokarev, der die Kunstakademie in Tallin besucht hat und lange Zeit
als Maler tätig war, bevor er zur Fotografie wechselte, hat im
Grunde das malerische Prinzip auf die Fotografie übertragen und
bemalt und bearbeitet nun die Negative seiner Arbeiten. Rein grafische
und malerische Effekte interessierten ihn, behauptet er, spricht von
"Fotomalerei", einem ähnlichen Gefühl wie bei den
Werken von Anselm Kiefer, und leugnet bei der Auswahl der Motive jeglich
anderes Konzept. Und umkreist doch seine Motive tagelang mit dem Fahrrad...
Zu seiner Berlinserie, die über 150 Bilder umfasst und als "work
in progress" zu verstehen ist, gehören ebenfalls unbearbeitete
Schwarzweißbilder, aber auch sie haben einen "Makel"
- der Blick ist ein Tunnelblick, an den Rändern unscharf und in
den Ecken schwarz. Gerade diese Bilder zeigen vor allem leere Eisenbahngleise
und wirken fast wie aus einer anderen Zeit, so, als ob ein Stummfilm
langsam ausgeblendet und das "Ende" bald erscheinen wird.