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Matthias M. Lentrodt

Zwischen schwarzem Mafia-Film und grotesker Märchenklamotte - Der Russische Film auf der Berlinale 2002

Rein zahlenmäßig war der Russische Film auf den diesjährigen Filmfestspielen in Berlin eher unterrepräsentiert: Kein einziger Film im Wettbewerb um die Bären, nur ein (sehr verspielter) Spielfilm im Panorama, dafür aber einige interessante Beiträge zum Forum des Internationalen Jungen Films und der witzige und kunstvolle Zeichentrickfilm "Sosedi"(Nachbarn) von Stepan Birjukow.
In einem Mietshaus im Moskau der dreißiger Jahre lebt ein schwärmerischer Poet, den seine Nachbarn etwas suspekt beäugen, vor allem wenn er wieder mal alkoholisiert seine Geigenkünste zum Besten gibt. Als er dann auch noch geigend zu fliegen beginnt, erscheint die Polizei. Birjukow ist mit diesem siebenminütigen Animationsfilm ein schwereloses, von Tschaikovskijs Violinkonzert treffend untermaltes Künstlerporträt gelungen, das vom Festivalpublikum bejubelt wurde.
Als einer der ersten Filme im Forum lief der Debütfilm "Aprel" des Petersburger Regisseurs und Drehbuchautors Konstantin Murzenko. Der schräge Film spielt im Mafia-Milieu eines Vororts von Moskau. Aprel, Vollwaise und Held des Films, bekommt den Auftrag, zwei Männer zu beseitigen, die seinem Auftraggeber, einem Capo der Moskauer Mafia, im Wege stehen. Aprel trifft die beiden Männer beim Drogenhandel auf einer Brücke im Park. Er ist nicht bereit, sie zu töten, stattdessen erfährt er über einen Bekannten die wahren Motive seines Auftraggebers. Die Wege des Killers und seiner (vermeintlichen) Opfer kreuzen sich noch einmal in einer turbulenten Nacht in einem Krankenhaus, wo eine Krankenschwester arbeitet, die Aprel als Prostituierte von der Straße aufgelesen hat. Während die beiden sich näherkommen, wird plötzlich die Station überfallen und ein Arzt gekidnappt. Der mit vielen Zitaten und Elementen des Film noir (Melvilles "Eiskalter Engel" stand Pate) durchsetzte Thriller kippt an diesem traumatischen Ort um ins Surreale, Parodistische und führt die Gewalt in Gestalt der maskierten Gangster ad absurdum. Im finalen Showdown fließt trotz vieler gewaltsamer Szenen überraschenderweise kein Blut: Aprel entkommt aus dem von der Polizei umstellten Gebäude mit einer Baby-Geisel in die Freiheit, die für ihn aber nur Leere, kein sinnerfülltes Leben bereithält.
Einem völlig anderen Genre widmet sich Marat Magambetow in seinem Film Dorogi ("Unterwegs"), einer deutsch-russischen Koproduktion. "Dorogi" ist eine filmische Reise von St. Petersburg nach Moskau, eine Collage von Reiseimpressionen, Beobachtungen, Stimmungen, Gesprächen, Momentaufnahmen von Landschaften und Gesichtern. Unterwegs trifft die Kamera zufällig auf Menschen, die ihre Lebensgeschichte erzählen, ihre Gedanken über die Liebe, die tragischen und komischen Seiten des Schicksals äußern, unterbrochen von beschaulichen Bildern oder Aufnahmen in Zeitraffer, die die Flüchtigkeit der Lebens evozieren, das Ganze verwoben zu einem fließenden Gedicht aus Bildern, Tönen, Gesichtern: ein kleiner unprätentiöser Film über das Leben und Reisen in der Fremde, an dessen poetische Bildsprache man sich schnell gewöhnt.
Einer der skurrilsten und märchenhaftesten Filme der Panorama-Reihe war der russische Beitrag Skaz pro Fedota-Strel'ca (Die Legende vom Schützen Fedot) von Sergej Ovcarov. Vor der Vorführung sagte der Regisseur, dass nur europäische Frauen seinen Film richtig aufnehmen würden und widmete die Vorführung im Zoopalast den deutschen Frauen. Der Stoff zum Film stammt von Leonid Filatov's gleichnamigem Kulttheaterstück, das z.T. in Versen gedichtet wurde. Ovcarov lässt seinen Film auf einer Müllkippe vor den Toren einer russischen Industriestadt mit der Erzählung eines alten Mannes beginnen, der von einem Zarenreich, das einmal an der gleichen Stelle existierte, zu berichten weiß. Es folgt die Rückblende in diesen kleinen Zarenhofstaat, vor dem der britische Gesandte erscheint. Da der Zar seinen Gast nicht angemessen bewirten kann, schickt er seinen Meisterschützen Fedot aus, ein Rebhühnchen zu schießen. Rebhühner sichtet Fedot aber nirgends, dafür begegnet er einer absonderlich sprechenden Taube, die ihm ihre Dienste und Treue anbietet und sich zu Hause in eine Frau verwandelt. Die Taubenfrau befiehlt darauf zwei Raben, die Tafel des Zaren mit exquisiten Speisen zu decken. Der Zar jedoch gibt keine Ruhe und befiehlt Fedot, die unmöglichsten Dinge herbeizuschaffen, was diesem dank seiner Taubenfee auch jedes Mal gelingt, bis der Despot etwas verlangt, das es gar nicht gibt und auch die Raben nicht besorgen können. Fedot ist gezwungen, fortzubleiben vom Zarenhof und schließlich nach Amerika auszuwandern. Das Besondere an diesem Märchenfilm für Erwachsene ist nicht die Geschichte selbst, sondern die Art und Weise, mit der sie erzählt und illustriert wird: mit groteskem Humor, pantomimisch überdreht, burlesk, mit Maskeraden und Klamauk, das alles in einem atemberaubenden Tempo. Doch schon nach einer Stunde der unermüdlichen Gags und Slapsticks ist man etwas geschafft von der geballten Komik und dem Singsang der Verse der hübschen Fee (insbesondere, wenn man des Russischen nicht mächtig ist) und sehnt sich nach der Erlösung des Helden. Dennoch ist dem Regisseur, der schon 1993 mit dem Film Trommelwirbel bei der Berlinale zu Gast war, eine fantasievolle Märchenklamotte gelungen, die man, wie Ovcarov später bekundete, auch als Parabel für die aktuellen politischen Verhältnisse in Russland verstehen kann.

Matthias M. Lentrodt
e-mail: Casanomade@aol.com

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