Yvonne Buedenhoelzer © Foto: Martin Kaufhold
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Die Innovation in der Tradition: Yvonne Büdenhölzer, Leiterin des Theatertreffens, über das bedeutendste Theaterfestival in Deutschland Vom 2. bis zum 18. Mai wird Berlin zur Theaterhauptstadt. Grund dafür ist das 51. Berliner Theatertreffen. Die Leiterin des Festivals Yvonne Büdenhölzer sprach mit 007-berlin über die heutige Rolle des Theaters, die Auswahl der Inszenierungen 2014 und warum es sich auf jeden Fall lohnt, zum Theatertreffen nach Berlin zu kommen. Olga Schtyrkina, 007-berlin: Das „Theatertreffen“ ist das bedeutendste Theaterfestival in Deutschland. Inwiefern wird es durch die Tatsache beeinflusst, dass es gerade in Berlin stattfindet – in einer kosmopolitischen und günstigen Stadt, wo es viele Künstler und Bohème gibt, und die sowohl junge Leute als auch Touristen aus aller Welt anzieht? Yvonne Büdenhölzer: Der Veranstaltungsort Berlin hat mit der Gründungsgeschichte des Theatertreffens zu tun. Das Festival wurde vor einundfünfzig Jahren als Schaufenster zum Westen gegründet - als die Mauer noch stand. Das eingekesselte Berlin sollte einmal im Jahr die Möglichkeit bekommen, Theater aus dem gesamten deutschsprachigen Raum in der Stadt hinter der Mauer sehen zu können. Als die Mauer fiel wurde natürlich auch darüber diskutiert, ob das Festival seine Relevanz verliert und es kam die Frage auf, ob es durch verschiedene Städte wandern sollte. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass das Theatertreffen zu Berlin gehört - und die Resonanz zeigt das auch. Es wandelt sich mit der Stadt und im Zentrum meiner Arbeit steht die Innovation in der Tradition: Die Entwicklung neuer Formate und Plattformen neben den durch die Jury kuratierten Inszenierungen. Was damals ein Schaufenster zum Westen war, ist heute ein Schaufenster für die Welt geworden. Das Theatertreffen ist längst mehr als nur die Präsentation von zehn bemerkenswerten Inszenierungen, es ist ein internationaler Branchentreff, es ist ein Talentecampus und vor allem ein Publikumsfestival. 007-berlin: Als die Mauer noch stand, betonte das Theatertreffen den kulturellen Reichtum Westberlins im Kontrast zur damaligen politischen Anspannung. Welche gesellschaftliche Idee verkörpert das Theatertreffen heute – ein Vierteljahrhundert nach dem Fall des Eisernen Vorhangs? Yvonne Büdenhölzer: Das Festival ist ein Theaterfest. 18 Tage im Mai steht die Kunstform Theater im Zentrum der Auseinandersetzung. Diskutiert wird natürlich über die Inhalte - also über das was auf der Bühne zu sehen ist. Im Allgemeinen ist eine Aufgabe von Theater, gesellschaftlich-politisch relevante Themen aufzuzeigen, Brennpunkte zu benennen, Fragen zu stellen, Auseinandersetzung anzuregen. In diesem Jahr haben wir die Inszenierung „Die letzten Zeugen“ vom Burgtheater in Wien eingeladen. In dieser Inszenierung kommen Zeitzeugen, österreichische Holocaust Überlebende, zu Wort. Diese Arbeit legt beispielhaft dar, wie sich Geschichte, hier konkret in Form von Zeitzeugenberichten, in eine theatralische Form übersetzen lässt. Das Festival zeigt einerseits eine Vielfalt an künstlerisch-ästhetischen Handschriften der Regisseure - von Herbert Fritsch über Karin Henkel bis zu Alvis Hermanis - und andererseits auch Stoffe, die politisch-gesellschaftlich relevant sind. 007-berlin: Wenn wir über „Die letzten Zeugen“ sprechen… Haben Sie das Gefühl, dass die Inszenierung die Zuschauer verändert? Dass sie z.B. Lehren aus der Geschichte ziehen, wie in diesem Stück über die Opfer des Holocaust, oder dass sie mit weniger Vorurteilen an das Weltgeschehen herangehen, und dabei auch andere Perspektiven zulassen? Yvonne Büdenhölzer: Bei der Inszenierung „Die letzten Zeugen“ ist das definitiv so. Ich habe die Aufführung gerade erst in Wien gesehen und bei den zur Inszenierung gehörenden Publikumsgesprächen bedanken sich gerade auch viele junge Zuschauer dafür, dass sie aus erster Hand über die Verbrechen des Holocaust erfahren und lernen durften. Hier wird ganz klar für ein wichtiges Thema sensibilisiert. Generell glaube ich nicht, dass ein Theaterabend die Menschen oder die Welt verändert. Aber ich bin überzeugt davon, dass Theater grundsätzlich Perspektivenwechsel erzeugen kann – und muss. Ein Theaterabend stimmt mich positiv, wenn Fragen aufkommen, wenn ich angeregt werde zu einer Auseinandersetzung. Ich glaube bei all dem prognostizierten Relevanz-Verlust des Theaters an seine ureigene Kraft. Wir haben z.B. die Produktion „Situation Rooms“ von Rimini Protokoll eingeladen. In diesem theatralen Parcours schlüpfen die Zuschauer mit Hilfe von Tablet Computern und Kopfhörern in verschiedene Rollen sogenannter „Experten des Alltag“. Deren Biografien sind im weitesten Sinne von Waffen bestimmt: ein Kindersoldat, ein Entwickler für schusssichere Kleidung, Kriegsopfer, Rüstungsmanager, ein Richter für Zivilopfer, ein Kriegsfotograf, ein Sportschütze, etc. Mir wurden hier interessante Perspektiven zum Thema Waffen und Krieg aufgezeigt. Was ich als Zuschauerin damit mache, liegt dann in meiner eignen Verantwortung. |
Die letzten Zeugen Ari Rath © Reinhard Werner / Burgtheater |
007-berlin: Welche Vorteile gegenüber dem klassischen hat das moderne Theater – wie zum Beispiel das Dokumentartheater von Rimini Protokoll, wo statt einer Bühne 17 Räume zu sehen sind und 20 reale Geschichten über den Krieg erzählt werden, und wo anstelle von Schauspielern die Zuschauer selbst agieren? Yvonne Büdenhölzer: Ich würde gar keine starre Unterscheidung zwischen klassischem und modernem Theater machen – und schon gar nicht von einem Vorteil sprechen. Die Frage ist doch vielmehr: Was möchte ich erzählen und welche Form finde ich dafür? Wenn Matthias Hartmann die Zeitzeugen auf die Bühne des Burgtheaters holt, ist dies zum Beispiel eine adäquate Form, die Geschichte des Holocaust zu erzählen. 007-Berlin: Findet jeder Regisseur dann eigene Zuschauer, eine eigene Zielgruppe, die sich gerade für diese Inszenierungsformen interessieren? Yvonne Büdenhölzer: Eine solche Kategorisierung lässt sich meines Erachtens nicht machen. Sicher gibt es Zuschauer, die Inszenierungen mit Schauspielern bevorzugen und wieder andere, die sich mehr für die Alltagsexperten von Rimini Protokoll interessieren. Aber die Frage ist doch vielmehr, was möchte ich erzählt bekommen und durch welche Mittel. 007-berlin: Zieht denn das Festival alle Altersgruppen an? Yvonne Büdenhölzer: Grundsätzlich ja. Wir haben einerseits Besucher, die seit 50 Jahren jede Festivalausgabe besuchen, also von Anfang an dabei sind. Daneben gibt es aber auch immer jüngeres Publikum. Ich persönlich interessiere mich sehr für die Mischung unserer Gäste. Grundsätzlich muss das Theater daran arbeiten, eine jüngere Zuschauergeneration für seine Kunst zu begeistern. |
Situation Rooms © Ruhrtriennale / Jörg Baumann
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007-berlin: Welche Ideen vertritt die Theaterbühne heute - in einer Zeit von Widersprüchen? Umweltfragen oder lokaler Konflikte – wie kann die Bühne bei der Suche nach den Antworten helfen, von denen das Überleben der Menschheit abhängt? Yvonne Büdenhölzer: Die Themen, die heute auf Theaterbühnen erzählt werden, sind sehr vielseitig. Zur Verdeutlichung möchte ich auf eine Produktion Bezug nehmen, die im letzten Jahr unter den zehn eingeladenen Inszenierungen war: „Disabled Theater“ von Jérôme Bel. Dass Jérôme Bel behinderte Künstler auf der Bühne zeigt, erzählt viel über unsere Gesellschaft. Der Zuschauer ist irritiert, wenn behinderte Künstler zu ihrer Lieblingsmusik tanzen und gleichzeitig lässt es ihn mit ganz vielen Fragen stehen: Was ist normal? Was ist Behinderung? Bis zu welcher Grenze bin ich bereit als Zuschauer/in zu gehen. Ein anderes Beispiel einer für mich relevanten Arbeit ist die neueste Inszenierung von Hans-Werner Kroesinger („FRONTex Security“), in der er von ungesteuerter Migration an den EU Außengrenzen erzählt. Das sind Themen, die ich zunächst erstmal nicht auf dem Theater erwarten würde. 007-berlin: Nach welchen Maßstäben wurden die zehn besten Stücke ausgewählt? Welche Fragestellung ist gerade zeitgerecht – Stücke, die gesellschaftspolitische Realitäten, Generationskonflikte, Geschlechterbeziehungen oder familiäre Bindungen thematisieren? Yvonne Büdenhölzer: Die zehn Inszenierungen sind nicht die besten, sondern die „bemerkenswertesten“. Es gibt weder inhaltliche noch formale Vorgaben, wohl aber gibt es eine Verfahrensordnung. Eine Inszenierung, die wir einladen, muss mindestens von vier Juroren für gut befunden werden. Insgesamt hat die Jury um die 400 Aufführungen angeschaut, davon waren ungefähr 25 auf der longlist und 10 sind auf der shortlist, das heißt in der Auswahl. 007-berlin: In diesem Jahr sind zwei Stücke bezogen auf Russland mit dabei, darunter eine Produktion des Schauspiel Stuttgarts, „Onkel Wanja“ von Tschechow. Dessen Dramatik vollzieht sich in der Alltäglichkeit des Lebens, im Bruch mit Autoritäten und dem Bedauern über nicht wahrgenommene Möglichkeiten. Worin liegt die Aktualität dieser Fragen, die vor mehr als einem Jahrhundert von einem russischen Dramatiker aufgeworfen wurden, für den deutschen Zuschauer? Yvonne Büdenhölzer: In den Stücken von Tschechow sind viele aktuelle Fragestellungen enthalten, er gehört immer noch zu den meist gespielten Autoren. In „Onkel Wanja“ sieht man Figuren, die durch Generationskonflikte belastet sind, die an unerfüllter Liebe zu Grunde gehen. Armut, Reichtum und Abhängigkeiten sind große Themen. Das sind zeitlose Stoffe. Der Wunsch aus der Provinz in die Stadt zu gehen und erfolgreich zu sein ist ein Lieblings-Sujet von Tschechow. Die Inszenierung des jungen Regisseurs Robert Borgmann ist sehr aktuell, und vor allem sehr meditativ und installativ. Den psychologischen Realismus Tschechows holt Borgmann in die Gegenwart ohne Samowar und menschliche Wärme, dafür mit viel Coolness und zermürbender Unterspanntheit. In Stuttgart wurde die Inszenierung sehr kontrovers aufgenommen - entweder liebt man den Abend oder findet ihn grauenvoll. |
Onkel Wanja, Regie: Robert Borgmann © Foto: © Julian Röder
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007-berlin: Im Programm enthalten ist auch das die letzte Regiearbeit des bekannten Regisseurs Dimiter Gotscheff: Heiner Müllers „Zement“ nach dem gleichnamigen Roman von Fjodor Gladkow über den Bürgerkrieg und die 20er Jahre in der Sowjetunion. Es soll zum Nachdenken anregen, ob das Erbringen von Opfern für eine Vision vertretbar ist, und thematisiert eine tote Utopie sowie die Hoffnung auf Verbesserung. Welches Bild von Gegenwart und Zukunft lässt sich mit dem Blick auf die von Gotscheff dargestellte Vergangenheit skizzieren? Yvonne Büdenhölzer: Die Fragen, wie Menschen ihr Leben und die Gesellschaft nach einem Krieg neu aufbauen können, wie Menschen nach dem Scheitern ihrer Utopie überhaupt weiter leben können, sind in dieser Inszenierung zentral und überaus aktuell. Gotscheff erzählt mit viel Mut zum Pathos vom Scheitern der Revolution und vom Emanzipationskampf der Geschlechter. Diese Arbeit ist ein großes monumentales und kraftvolles Theaterereignis. 007-berlin: Neben den Aufführungen wird es ein Internationales Forum, das Theatertreffen-Blog und Diskussionen mit Künstlern, Politikern und Wirtschaftsleuten geben. Werden die Zuschauer – selbst mit der Hilfe von Experten – in der Lage sein, angesichts dieses Informationsflusses die Spreu vom Weizen trennen? Yvonne Büdenhölzer: Das hoffe ich doch sehr. Das Festival gliedert sich in drei zeitliche Strukturen: TAG, ABEND, NACHT. Und das spiegelt sich auch in den Veranstaltungen wider. Das Festivalzentrum ist das Haus der Berliner Festspiele. Das Theatertreffen bietet ganz unterschiedliche Erlebnisräume. Es gibt viele Veranstaltungen bei freiem Eintritt, ein Public Viewing im Sony Center am Potsdamer Platz und Preisverleihungen. Am Tag finden im CAMP Diskussionen, Workshops und Seminare statt, dann die Aufführungen auf der BÜHNE am Abend und in der Nacht die Premierenfeiern, Publikumsgespräche, ein musikalisches Rahmenprogramm und die Partys in der BAR. Ich würde sagen – ja, natürlich kann man die Spreu vom Weizen trennen! Eine Diskussion über Theaterkritik ist eher eine Fachdiskussion, obwohl jeder eingeladen ist zu kommen. Bei den Publikumsgesprächen nach den Aufführungen mischt sich das internationale Fachpublikum mit den Berliner Zuschauern. Grundsätzlich betrachte ich das Festival als ein offenes Haus, als ein Erlebnisraum, der jeden einlässt. 007-berlin: Könnten Sie die drei gewichtigsten Gründe nennen, warum die Leser dieses Interviews unbedingt zum „Theatertreffen“ kommen sollten? Yvonne Büdenhölzer: Erstens weil man hier 10 bemerkenswerte Inszenierungen innerhalb von kürzester Zeit sehen kann. Man muss nicht nach Wien oder Zürich reisen, sondern Wien, Zürich, München kommen zu uns. Zweitens weil das Haus der Berliner Festspiele offen für alle ist, tagsüber finden diskursive Veranstaltungen in unserem neuen CAMP statt, abends sind auf den BÜHNEN die Inszenierungen des Theatertreffens aber auch des Stückemarktes zu sehen und nachts gibt es in der BAR Gespräche, Konzerte und Partys. Und drittens ist der Berliner Theater-Mai ein schöner Anlass, mal wieder ins Theater zu gehen und überhaupt nach Berlin zu kommen.Das Gespräch führte Olga Schtyrkina |
Zement, Regie: Dimiter Gotscheff © Foto: © Armin Smailovic
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