Merle Hilbk

„Sibirski Punk“ : Ein Sommerblues
von Anna Brixa

Am Anfang war die Musik: In einer Hamburger Altbauwohnung, in der sich Autorin Merle Hilbk bei Pizza- und Rotweinresten ihrer Sehnsucht nach dem Osten erinnert. Dieses unerklärlichen Gefühls, dass sie eben dort etwas suchen muss. Etwas, was sich mit dem Mythos „Russische Seele“ (Textausschnitt...>>>) beschreiben lässt oder auch ganz einfach Heimat, Vertrauen, Gelassenheit bedeuten kann. Also bricht Hilbk auf aus ihrer Popkultur-Welt in einen heißen sibirischen Sommer, lässt sich von hämmernder Diskomusik mit schmachtigen Texten, bekifftem Punk und melancholischen Volksweisen am Lagerfeuer berieseln. Eine Zehn-Rubel-Kassette mit der heißesten Pop-Compilation der Saison bietet die musikalische Untermalung zu ihrem Trip und erzeugt „trotz des unsäglichen Beatgestampfes, für das man Dieter Bohlen oder DJ Bobo die Pest an den Hals wünschen möchte, […] ein Kribbeln im Unterleib, ein Brennen im Herzen, eine Sehnsucht im Kopf.“

Es ist eine Reise in den wilden Osten (Textausschnitt...>>>) , die eigentlich vor allem zu einem selbst führt. Das alte Paradox, dass man manchmal weit weg fahren muss, um an Wesentliches näher heranzukommen. Die Rolle als Botschafter des eigenen Landes plötzlich sehr ernst nimmt, zwar einerseits reflektiert und kritisch sein, aber in erster Linie auch viel Positives vermitteln will. Und von Deutschland erzählen als von einem Land, das man als junge Generation trotz aller Verfehlungen der Vergangenheit ganz einfach toll finden kann. Auch Hilbk stellt im Lauf ihrer Reise fest, dass sie zwar nicht direkt stolz ist, Deutsche zu sein, „aber schon stolz auf die Geschichte dieses Landes, vor allem auf die Literatur und die Dichtung. Und auch auf die Popmusik.“

Erzähl uns von Deutschland (Textausschnitt...>>>), bitten ihre sibirischen Weggefährten, sag doch ein deutsches Gedicht auf, sing ein deutsches Lied. Also singt Hilbk „Am Brunnen vor dem Tore“, rezitiert Celans „Todesfuge“. Und stellt fest, zwischen welchen Polen sie ihr Deutschlandbild konstruiert: der deutschen Romantik und dem Nationalsozialismus. Und was das aussagt. Mit ihrer persönlichen Auseinandersetzung legt die Autorin den Finger auf einen wunden Punkt der jungen Generation, die mit kompromissloser Holocaust-Aufklärung zu einem besonderes demokratischen Bewusstsein geführt werden sollte, durch die endlosen schulischen Debatten über Nationalismus, Historikerstreit und die Schuldfrage aber eher gelangweilt, abgeschreckt und jedem leisen Ansatz von Patriotismus gegenüber immun gemacht wurde.

So werkelt Hilbk in der Ferne und vor dem Hintergrund eines offenen russischen Patriotismus an ihrem persönlichen Deutschlandbild. Identitätssuche durch Abgrenzung. Und kommt zu dem Schluss, dass sie ihr Heimatland gar nicht so eindimensional und humorlos findet, wie es die Russen sich manchmal vorstellen. Der Osten wird zur Projektionsfläche einer Suche nach der gelungenen Mischung zwischen russischer und westlicher Mentalität.

Und woher kommt die Sehnsucht nach eben dieser Ferne? Denn eigentlich ist Merle Hilbk  kein Ostkind. Im Gegenteil, sie ist mit Vollkornnudeln aufgewachsen, mit Rechtsstaatlichkeit, Popmusik und Demos gegen die Globalisierung. Voller Eifer, die Welt besser oder zumindest anders zu machen (Textausschnitt...>>>) . Bis dieser Eifer irgendwann Enttäuschung wich und sie als mittlerweile erfolgreiche Journalistin für ZEIT und GEO ferne Länder bereiste. Doch ein schaler Nachgeschmack blieb: das Bewusstsein, zwar Ehrgeiz und Erfolg, nicht aber ein tiefes Gefühl, das sich irgendwo zwischen globaler Gerechtigkeit und einem irgendwie besserem System situierte, mit in das neue Leben gerettet zu haben.

Als sie während einer Recherchereise in Kasachstan ein junges Mädchen (Textausschnitt...>>>) mit TB völlig in sich gekehrt tanzen sieht, stellt die Autorin fest, „dass es eine direkte Verbindung gab zwischen meinen politischen Protestversuchen und jenem Erlebnis in der Steppe: ein Band der Sehnsucht, an dem ich mich entlang hangelte, um nicht willenlos mitgerissen zu werden von den Strudeln der Zeitläufte“.

In den Osten zog es Hilbk irgendwie schon immer, und das ohne ersichtlichen Grund: „Das war so ein Gefühl“. Schon in der Schule las sie am liebsten Ostliteratur, Turgenew und Tolstoi. Dann recherchierte sie Medizingeschichte in Kasachstan und hatte den seltsamen Eindruck, dass ihr alles sehr vertraut war, sie sich so richtig zu Hause fühlte. Obwohl sie die Stadt Almaty gar nicht besonders schön fand. Es war nur eben wieder dieses Gefühl. Zurück zu Hause, beschäftige sie sich weiter mit Osteuropa. Dann kam die Auflösung. Auf einem Familienfest traf sie einen Mann, der sagte: „Ich bin Dein Grrrosssonkel!“ Und dass er vor zwei, drei Jahren mit seiner Familie nach Deutschland gekommen sei. Ein Teil ihrer Verwandtschaft wären Deutsche, die nach Kasachstan deportiert worden waren.

Eigentlich sollte „Sibirski Punk“ also eine Familiengeschichte beschreiben, die Suche nach den eigenen Wurzeln. Als Selbstfindungsprozess kann man das Buch in jedem Fall bezeichnen, jedoch genauso als vorsichtigen Liebesroman, selbst als alternativen Reiseführer. Den roten Faden, die Suche nach ihrer deutschen Identität, verfolgt die Autorin konsequent durch das ganze Buch hindurch. Und so sehr sie auch mit manchen Absonderlichkeiten Russlands kämpfen mag, der Oben-unten-Rollenverteilung in Beziehungen (Textausschnitt...>>>), dem offenen Antisemitismus oder dem für Russland so typischen In-den-Tag-Hineinleben: Im Endeffekt ist es erst Sibirien, das ihr die lang verlorene Ruhe und Gelassenheit zurückgibt.

Auf ihrem Trip durch den Osten Russlands stößt Hilbk auf allerlei bunte Gestalten und eckt mit ihrer deutschen Mentalität häufiger an. Durch ihren Anfangskontakt zu einem einflussreichen Rektor des Atomforschungsinstituts in Nowosibirsk profitiert sie vom „blat“, den in Russland so ausschlaggebenden Beziehungen; von der Tatsache, dass man in Sibirien, wenn man der Freund „von dem“ ist, auch automatisch der Freund „von dem“ ist. Interessant sind vor allem die späteren Kapitel, in denen sie auf eigene Faust das Land durchreist (Textausschnitt...>>>) und auf Schamanen, einen Tschetschenien-Veteranen sowie eine Gruppe wilder Baikal-Amazonen trifft und mit der Punkband Orgasmus Nostradamus den stärksten Joint ihres Lebens raucht.

Die Tatsache, dass eine Frau alleine durch Sibirien reist, wirkt vor dem Hintergrund des russischen Geschlechterbildes erst einmal bizarr. Es ist eben dieser Blick einer sensiblen Mittdreißigerin, der dem Buch eine besondere Perspektive gibt: Hilbk beobachtet als geübte Journalistin nicht nur ihre Umgebung und die Menschen um sich herum mit scharfem Blick, sondern ebenso sich selbst. Und sie lässt den Leser an ihren innersten Ängsten teilhaben: Der Angst vor dem Altern und dem Tod, davor, die große Liebe nicht mehr rechtzeitig finden zu können.

Diese persönliche Dimension macht das Buch besonders und hebt es aus dem Genre eines bloßen Reiseromans heraus. So erfährt der Leser von den vorsichtigen Annäherungsversuchen der Autorin einem jungen Russen gegenüber, dessen für den Westen ungewohnt poetische Komplimente sie verzaubern. Seine abrupten, sehr direkten Flirttechniken versteht sie jedoch deshalb noch lange nicht. Es ist das vorsichtige Sich-Herantasten gegensätzlicher Mentalitäten, das Ost-West-Erotik mit einem besonderen Zauber belegen kann, der aber oft ebenso einer gewissen Komik nicht entbehrt.

Doch erst den Alltag zu erleben, wie er tatsächlich ist, bringe einen wirklich weiter, findet Merle Hilbk. Also nimmt sie auch unbequeme Reisebedingungen selbstverständlich in Kauf: Kälte, ungewohntes Essen, Stille, Fremdheit. Und die Auseinandersetzung mit der eigenen Angst, die, wie sie findet, „schon ein ganz beherrschendes Thema und Gefühl in Deutschland“ ist.


„Sibirski Punk“ ist jedenfalls keine politische Momentaufnahme Sibiriens und auch keine Insider-Russland-Abhandlung. Aber das strebt die Autorin eben auch nicht an. Sie bietet dem Leser ihre persönliche Objektivität, fragt aus ihrem individuellen Hintergrund heraus. Bewusst wählt sie eine andere Perspektive als Bednarz und Ruge, als die klassischen Russland-Reisereportagen. Und genießt die Freiheit, kein objektives Bild von Russland zeichnen zu müssen, in dem obligatorische Motive wie Wodka (Textausschnitt...>>>), die russische Seele, die Sowjetunion, Hammer und Sichel präsent sein müssen. In einem Artikel für z. B. GEO müsse man erst mal vom deutschen Blick ausgehen, sagt Hilbk. Das musste sie in ihrem eigenen Buch nicht. Gerade, weil es ein „Ich-Buch“ sei, könne man einige Sachen eben viel subjektiver machen, ohne dass dadurch an Objektivität viel verloren gehe.

Aktuell schreibt die Autorin zum ersten Mal etwas Deutsches, einen Hamburg-Roman. Schon durch das Genre bedingt ein subjektives Buch, doch mit gleichzeitig präzise ausrecherchierten Fakten. Und gewissermaßen auch unter Einbezug der russischen Seele: Hauptfigur ist ein Hamburger Bestattungsreeder, der nur angesichts des Todes seine wahren Gefühle zeigen kann. Dass dieses Buch, seit langem ihre erste Nicht-Auslandsgeschichte, ganz gut laufe, wünscht sich Hilbk. Die erste Auflage von „Sibirski Punk“ ist jedenfalls schon verkauft. Ja, und dann wünscht sie sich, sich noch mal richtig zu verlieben.


Und was bleibt eigentlich zurück von diesem sibirischen Sommer? Eine neue Art von Gelassenheit vielleicht. Zum Beispiel: nicht erklären zu müssen, warum die Prophezeiungen der Schamanin sich so präzise bewahrheiten. Sich auf die ganze Mystik Russlands einfach einzulassen. Zu akzeptieren, dass es Sachen gibt, die man selbst nur ein Stück weit beeinflussen kann. Und nur dann gegen Wände anzurennen, wenn sich der Aufwand lohnt.

Erst als Hilbk zu diesen Einsichten gelangt ist, das analytische Dokumentieren ihrer Reise aufgibt und einfach nur hineinspürt in die Musik, die Menschen, das Land, dann erst findet sie, wonach sie so lange gesucht hat. Die russische Seele und eine Art Frieden für sich selbst, ein Stück Gelassenheit, das mit AirSibir mit ihr nach Hause fliegt. Die Sehnsucht bleibt. Die Ruhe aber auch. Und natürlich die One-Hit-Wonder-Compilation (Textausschnitt...>>>) für zehn Rubel, mit der sich die Erinnerung an diesen Sommer auch in Hamburg jederzeit wieder anknipsen lässt.

Merle Hilbk
Sibirski Punk - eine Reise in das Herz des Wilden Ostens
Verlag Kiepenheuer, Berlin 2006
ISBN 10: 3-378-01081-9

Interview mit Merle Hilbk von Anna Brixa....................>>>

© Fotografiert und verfasst von Anna Brixa

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