Kann ich dir helfen, Bruder?
Gedanken zur russischen Brüderlichkeit
von Julia Harke

Man frage einen Deutschen, was die herausragende Eigenschaft eines Russen ist. Was wird er wohl antworten? Vielleicht seine Gastfreundschaft? Oder seine Trinkfestigkeit und das Trinken auf Bruderschaft? Kaum ein Deutscher jedoch und sicherlich ebenso wenige Russen denken an solche Dispositionen wie Selbstaufgabe oder das Mitleiden mit seinem Nächsten. Es gab aber mal eine Zeit, in der es vielen Russen selbstverständlich schien, für den eigenen Glaubensbruder in den Tod zu gehen.

1878-88 gab es einen fürchterlichen Krieg. Christliche Rebellen in Bosnien und Herzegowina wandten sich an Serbien und Russland um Hilfe gegen die Türken, die sich den Forderungen nach kontrollierten Reformen zugunsten der orthodoxen Christen widersetzten. Gegen den Rat der russischen Regierung, aber mit aktiver Unterstützung panslavistisch begeisterter russischer Freiwilliger, erklärten Serbien – damals autonomer Staat innerhalb des Osmanischen Reichs – und Montenegro den Türken den Krieg. Russland sah sich als Schutzmacht aller orthodoxen Glaubensbrüder auf dem Balkan und als Kopf einer panslavistischen Bewegung und unterstützte die Serben. In der Schlacht von Senova gelang den Russen der entscheidende Sieg. Der Krieg wurde durch den Vertrag von San Stefano 1878 beendet. Die Türkei musste die Unabhängigkeit Serbiens, Montenegros und Rumäniens anerkennen. Serbien erhielt dabei beachtlichen territorialen Zuwachs. So viel zur Geschichte. Nun zum Wesentlichen.

Die Kunde über die Gräueltaten während der Schreckensherrschaft der Türken drang auch in das russische Volk. Man hörte, dass Slaven in der Türkei unterdrückt, gefoltert und getötet wurden, Frauen vergewaltigt, Kleinkinder verstümmelt. Viele flohen und ließen sich in nahe gelegenen Ländern nieder. Zunächst sammelte man in ganz Russland Spenden für die Flüchtlinge; dann begab sich General-Major Chernjaev nach Serbien und zog eine große Zahl russischer Freiwilliger an den südöstlichen Kriegsschauplatz mit.

Warum konnte diese nationale Bewegung stattfinden? Wie konnte sie solche Ausmaße annehmen? Warum verließen Menschen alles, was ihnen wichtig war und gingen in ein fremdes Land, wo sie Lebensgefahr erwartete?

Um diese Fragen beantworten zu können, sollte man unter anderem das geistige Leben der Russen im 19. Jahrhundert betrachten. Das religiöse Erlebnis steht bei diesem Thema im Mittelpunkt. Die Religiosität des Russen beginnt in seinem Alltag; er ist auch in den einfachsten Beziehungen seines Lebens religiös. Der religiöse Russe darf nicht gegen die Lehren seiner Kirche protestieren; er muss sie annehmen und sie befolgen, ohne zu hinterfragen. Ihm ist sein Glaube gegeben, das Geistige aber, seine Persönlichkeit, ist  nicht wichtig, bleibt ungewürdigt. Hier erkennt man den geistigen Mangel des Russen: er hat keine Ehrfurcht vor der geistigen Persönlichkeit des Mitmenschen. Also ist für ihn sein Mitmensch tatsächlich Bruder, für den er unendliches Wohlwollen fühlt, bei dem er allerdings das gleiche religiöse Erlebnis voraussetzt. Ein wichtiges Stichwort ist die Brüderlichkeit: der Russe ist bestrebt, sein Erlebtes, vor allem im religiösen Bereich, seinen Mitmenschen mitzuteilen.

Damals, wie in unserem Jahrhundert, verbrüdern sich die Russen, reißen glühenden Herzens ihr letztes Hemd vom Leib und schenken einem sogar die eigene Ehefrau. Am nächsten Tag, nachdem man den Rausch dann ausgeschlafen hat, ist der Russe doch ziemlich geizig und behält seine Frau trotz rührender Versprechen am Vorabend für sich.

Interessant ist auch die Betrachtung der Wohltätigkeit, die mit Brüderlichkeit und Mitleiden besonders im russischen Volk eng verbunden ist. Jeder Mensch hat seine eigene Vorstellung von Wohltätigkeit und Nächstenliebe. Wenn man aber einen Menschen vor ein konkretes Unglück stellt, wird jeder auf seine Weise helfen wollen. Also ist das Gefühl des Mitleidens sehr einfach und unmittelbar -  man möchte helfen, auch wenn der Leidende gar nicht um Hilfe bittet oder sie ihm schaden könnte. Auch heute ist der Russe bzw. die Russin stets bestrebt, dem Nächsten Gutes zu tun. Dies äußert sich im aufdringlichen Auffordern, doch bitte noch etwas zu essen: Man hat ja auch erst drei Hähnchenkeulen und fünfzehn bliny gegessen. Ob man dem Platzen des Bauches mit Entsetzen entgegensieht, wird dabei wenig beachtet.

Die altrussische Gesellschaft war bestrebt, das Gebot der Nächstenliebe einzuhalten und zu lehren. In der Praxis bedeutete Nächstenliebe zunächst das Mitleiden mit dem Bettler. Die Liebe zum Nächsten bedeutete vor allem, dem Hungernden Essen, dem Dürstenden zu trinken zu geben und den Eingesperrten im Gefängnis zu besuchen. Menschenliebe bedeutete in der Praxis Bettlerliebe. Wohltätigkeit war nicht nur ein Hilfsmittel, um den gesellschaftlichen Wohlstand zu verbessern, sondern auch notwendig, um die moralische Gesundheit aufrecht zu erhalten. Die heilende Kraft der Gabe bestand nicht nur darin, dass man einem anderen hilft, indem man ihm Geld gibt, sondern vielmehr darin, an dem Leiden teilzunehmen und das Gefühl der Menschenliebe zu erleben. Es war wichtig, dass das Geben im Verborgenen geschieht. Wenn sich zwei Hände trafen, die eine zum Geben, die andere zum Nehmen, ist  schwer zu sagen, welche von ihnen mehr gab. Der Bettler betete für den Geber; er war für ihn der geistige Wohltäter. Bettler existierten in Russland als eine Institution, als ein Mittel zur geistigen Erziehung des Volkes. Bettler gibt es heute auch noch. Und die gebende Hand ebenfalls. 

Ob nun eine Selbstaufgabe von den heutigen Russen zu erwarten ist, wage ich zu bezweifeln. Aber in der heutigen Gesellschaft, die auf Konsum, Eigennutz und privates Glück ausgerichtet ist, kann man das auch nicht erwarten. Man ist ja schon froh, wenn jemand einer alten Frau im Bus seinen Sitzplatz anbietet. Aber das Bedürfnis zu helfen ist noch nicht ganz verschwunden: wenn man im Bus, in dem der Alten kein Sitzplatz angeboten wird, nach der eigenen Haltestelle fragt, fühlt sich jeder angesprochen und dafür zuständig, dass man auch wirklich an der richtigen Haltestelle aussteigt.  

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