Ein Semester in St. Petersburg – erste Eindrücke
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Fontanka © Claudia Jutte |
Fontanka © Claudia Jutte |
Wie ist es überhaupt zu der Möglichkeit gekommen, ein Semester
an der Staatlichen Universität St. Petersburg zu studieren? Die
Zusage zum Austauschplatz habe ich im letzten Winter von dem Internationalen
Büro meiner Universität, der EUV in Frankfurt/Oder, bekommen. Nach
einer langen Vorbereitungszeit ging es dann Ende August schließlich
nach Russland. Von dem, was mich dort erwarten sollte, hatte ich
schon eine gewisse Vorstellung, da ich bereits zwei Mal in St. Petersburg
war und so nicht nur die Stadt, sondern auch ihre Menschen ein wenig
kennenlernen konnte. Es bedeutete für mich also keinen allzu großen
Schock, zu sehen, wie der normale Fußgängerüberweg zum Laufsteg
und die Universitätstoilette zum Friseursalon werden. Und auch auf
die ewigen Schlangen vor der Registrierung und den endlosen bürokratischen
Aufwand habe ich mich innerlich eingestellt. Die ersten beiden Wochen,
die ich beinahe ausschließlich wartend vor Bürotüren verbrachte,
konnte ich schließlich mit der Einsicht abhaken, dass Geduld eines
der höchsten Güter in Russland ist.
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Moika © Claudia Jutte |
Newskij Prospekt © Claudia Jutte |
Abgesehen von dem fachlichen Gewinn für mein Studium, dem Lernen
der Sprache und natürlich der lang ersehnten Verwirklichung des
Wunsches, die touristische Ebene zu verlassen, um in das echte Leben
Russlands mit all seinen Höhen und Tiefen einzutauchen, ist solch
ein Aufenthalt im Ausland eine ebenso große Herausforderung für
die eigene Persönlichkeit. Wie ist es, wenn man das vertraute Umfeld
aufgibt, um in einem fremden Land ganz auf sich allein gestellt
zu sein? Am Anfang stehen Unsicherheit und die Frage nach dem Warum.
In diesen Momenten beginnt man damit, erfolgreiche Situationen schätzen
zu lernen, die man zu Hause selbstverständlich an sich vorüber ziehen
lässt. Der geglückte Gang zur Post oder das Gespräch mit den Nachbarn
sind jedoch hier eine Bestätigung, den eingeschlagenen Weg weiter
zu beschreiten.
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Newa, Strelka © Claudia Jutte |
Strelka © Claudia Jutte |
Was mich alles während des Wintersemesters erwarten wird, in der
„Hauptstadt des Nordens“, die jeden Tag neue Erlebnisse bereithält,
werde ich für Euch, die Leser von 007, in einer kleinen Reportage
niederschreiben. Ihr seid herzlich dazu eingeladen, mich durch diese
Zeit zu begleiten, nicht zuletzt, damit Ihr selbst Eindrücke und
Anregungen gewinnt - für Eure eigene Reise nach St. Petersburg!
Newa
© Claudia Jutte |
Das Leben im russischen Wohnheim
Seit einiger Zeit lebe ich nun im fünften Wohnheim auf der Schewtschenko
Straße und hatte genug Zeit, mich einzuleben und an die Umstände
zu gewöhnen. Hier ein kleiner Einblick in das studentische Wohnheimleben:
Da ist zum einen die „Deschurnaja“ – mehr oder weniger charmante
Zierde des Wohnheimeinganges. Sie passt nicht nur auf, dass kein
Eindringling in das Haus kann, sondern übernimmt gleichermaßen verantwortungsvoll
die Erziehungsaufgaben ihrer rund 180 Adoptivkinder – eine Umstellung,
die jeden Ausländer in seine Teenagerzeit zurück versetzt. Da wird
plötzlich wieder mit vorwurfsvollem Blick gefragt, wo man letzte
Nacht mit wem wie lange unterwegs war oder man wird zu später Stunde
mit erhobenem Zeigefinger aufgefordert, doch bald ins Bett zu gehen.
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Wohnheim © Claudia Jutte |
Platz der Deschurnaja © Claudia Jutte |
Die Funktion als Ersatzmutti erklärt sich allerdings durch das
junge Durchschnittsalter meiner russischen Mitbewohner – in der
Regel beginnt man hier sofort nach Abschluss der Schule, für deutsche
Verhältnisse also im zarten Alter von 17 Jahren, das Studium. Für
viele ist es das erste Mal, dass sie weit weg von zu Hause, ganz
auf sich allein gestellt, ihren Alltag bewältigen müssen. Insofern
ist die mütterlich-strenge Fürsorge einiger der Deschurnajas durchaus
gerechtfertigt.
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Korridor © Claudia Jutte |
Zimmer © Claudia Jutte |
Doch noch über den Deschurnajas steht die Komantka – stolzes,
aber auch überaus strenges Oberhaupt unserer Wohnheimcommunity.
Sie hält die Fäden in der Hand und, wenn etwas nicht ihren Vorstellungen
entspricht, durchdringt ihr Zorn alle Etagen des Hauses. Zur Zeit
entlädt sich dieser meist auf die zahlreichen Arbeiter, die, größtenteils
als Saisonkräfte von weither, ebenso unser Wohnheim bevölkern und
sich ganz in russischer Manier mehr oder weniger regelmäßig der
Renovierung von Zimmern und sanitären Anlagen widmen – ein schier
endloses Unterfangen.
Bezüglich der Privatsphäre gibt es nicht viel zu berichten, denn
diese beschränkt sich lediglich auf Bett und Schreibtisch. So wie
man Kühlschrank und Dusche mit den anderen 35 Bewohnern seiner Etage
teilt, ist im Zimmer ebenso niemand allein. Doch auch dies ist wiederum
nur eine Frage der Gewöhnung – ein Prozess, der sich je nach Mitbewohner
mit mehr oder weniger Komplikationen automatisch vollzieht.
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Dusche © Claudia Jutte |
Küche © Claudia Jutte |
Für mich ist es immer wieder erstaunlich, wie man sich der Situation
anpassen kann, wenn es einfach keine andere Möglichkeit gibt, aber
auch, was sich in einem selbst verändert. Da wird plötzlich der
kürzeste Augenblick des Alleinseins ein wahrer Entspannungsurlaub
oder der noch so laute Besuch des Nachbarn zur leisen Hintergrundmusik
bei den Hausaufgaben.
Auf der anderen Seite habe ich bis jetzt, verglichen mit meiner
Wohnheimsvergangenheit in Deutschland, noch nie ein so entspanntes
Miteinander erlebt – dass jeder jeden schon einmal in der Dusche
oder zumindest im Schlafanzug auf dem Gang angetroffen hat, trägt
dazu wahrscheinlich nicht gerade wenig bei. Abgesehen davon, teilen
wir alle die gleichen Umstände – den morgendlichen Renovierungslärm,
die nächtliche Ausgangssperre, das Besuchsverbot oder den Warmwasser-
und Heizungsausfall.
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Wäscherei © Claudia Jutte |
Waschzimmer © Claudia Jutte |
Das Einleben wurde für mich auch eindeutig durch das Wohnen mit
den russischen Studenten erleichtert, denn die Aufforderung zu einem
Tee ist alles andere als eine Floskel, sondern eine ernst gemeinte
Einladung. Die Kontaktaufnahme ist generell viel unkomplizierter
als in Deutschland. Hier kann man sich ohne Umschweife kennenlernen
und verabreden und das, man glaubt es kaum, ohne peinliche Situationen
– denn Russen sind unglaublich gute Unterhalter und in der Lage,
ganze Stunden mit etlichen Anekdoten und Witzen zu füllen, über
die sie meist jedoch nur selbst lachen können (wir Deutsche haben
nämlich keinen Humor).
Herzliche Grüße aus St. Petersburg,
Claudia Jutte
Oktober 2006
Kommentare zur Weiterleitung an: redaktion@007-berlin.de
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