Blick vom Universitätsgelände

Alle Fotos © Claudia Jutte

Utschitsa, utschitsa, utschitsa…

Das erste und einzige Josif Brodskij Denkmal Russlands

Die letzten mitternächtlichen „halâva lovis'“- Rufe in Hoffnung auf ein gut bestandenes Examen oder „saschjot“ verhallen im Wohnheim und somit geht auch die zweite „sessia“, also Prüfungsphase, während meines Aufenthaltes hier vorüber. Und wie auch die Abreise der ausländischen Studenten immer näher rückt, so bereiten sich ebenso die russischen auf den Beginn der Sommerferien vor.

Wie ist aber das Leben an der Sankt Petersburger Staatlichen Universität? Wie ist es organisiert und welche Unterschiede gibt es zur deutschen Universität?

Hof der Philologischen Fakultät

Studieren ist hier, bezüglich Studiengebühren, enger als bisher noch in Deutschland mit Geld verbunden. Bereits nach den im Eintrittsstest erbrachten Leistungen werden die Studenten eingeteilt in „platniki“ und „budschetniki“, das heißt diejenigen, die fortan für das Studium aus eigener Tasche aufkommen müssen und diejenigen, die vom Staat Unterstützung bekommen.
Die Studiengebühren unterscheiden sich je nach Fakultät. Als kostenintensivste Fakultät an der SPbGU gilt die Juristische Fakultät mit einem Semesterbeitrag von circa 1700 Euro und dem berühmtesten Absolventen Vladimir Putin.

Neben den Studiengebühren müssen die „platniki“ (von platit', was „zahlen“ bedeutet) im Gegensatz zu den Stipendiaten in vollem Umfang für den Wohnheimplatz aufkommen. Budget-Empfänger bekommen darüber hinaus noch ein monatliches Stipendium, das man mit umgerechnet 20 Euro jedoch kaum als solches bezeichnen kann. Im weiteren Studienverlauf hängt es dann von den Leistungen im Studienjahr ab, ob budschetniki eventuell dieses Entgelt gestrichen bekommen.

Denkmal für den Großen Vaterländischen Krieg

Das, was in Deutschland von Studenten immer stärker befürchtet wird, ist hier fester Bestandteil in der Bildungsstruktur. Mehr oder weniger ist Studium also eine Frage des Geldes. Dieses hat unterschiedlichste, nicht nur negative Folgen.
Positiv anzumerken ist, dass unter einem solchen Gelddruck das intensive Lernen gefördert wird. Andererseits ist es allgemein bekannt, dass sich die Beziehung der Universität zu Studenten, die (bzw. deren Eltern) die Ausbildung selbst bezahlen, anders gestaltet als zu den „budschetniki“. Dies drückt sich in einer milderen Zensurenvergabe aus, weil man die Geldgeber natürlich ungern aus ihrem Dienst als solche entlässt.

im Universitätsgelände

Im Gespräch mit Studenten wurde mir immer wieder bewusst, dass der Universitätsabschluss oft nur um eines Abschluss willens an sich angestrebt wird, weil der Titel bei der Bewerbung um jeden beliebigen Job Vorteile einbringt, völlig egal, ob es sich dabei um eine Arbeit nach der Spezialisierung handelt oder nicht. Das panikhafte Suchen einer Bestimmung im Berufsleben, so wie es bei vielen Studenten in Deutschland verbreitet ist, erscheint vor diesem Hintergrund eher lachhaft und verwöhnt.

Als ausländischer Student hat man, so habe ich es während zwei Semestern Austausch erlebt, bezüglich der Bewertung von Leistungen Vorteile, was natürlich unter anderem vom Dozenten abhängt. Im Grunde jedoch befindet man sich in einer Art Sonderstellung, die sich durch eine geschwächtere Erwartungshaltung ausdrückt. Ein ernsthaftes Studieren wird dabei allerdings weniger gefördert. Seitens der Studenten jedoch, so habe ich die Erfahrung gemacht, wird man als vollwertiger Kommilitone eher nicht wahrgenommen. Aufgrund der schulisch aufgebauten Universitätsstruktur in Studienkursen und Gruppen, hat man es als stotternder „Fremdkörper“ im fest eingefügten Klassenkollektiv eher schwer.

Das 12-Kollegien-Gebäude

Was den Universitätsablauf an sich betrifft, so kann ich mich auch nach zwei Semestern an vieles nicht gewöhnen, vor allem nicht an den Umgang zwischen Studenten und Dozenten untereinander. Einerseits ist die aus frühen Schultagen bekannte Respekterweisung durch Aufstehen vor Beginn der Vorlesung noch immer die gängige Begrüßungsform besonders in den jüngeren Kursen, andererseits aber stört sich weder Student noch Professor daran, bei Telefonanruf das Handy zu zücken, die laufende Veranstaltung zu verlassen und vor der Tür das Gespräch in Ruhe fortzusetzen. Das ständige Zuspätkommen, Quatschen oder Nachziehen des Lidstriches während der Vorlesung lassen ebenso kaum eine mir bekannte Universitätsatmosphäre aufkommen. Da ich selbst, für deutsche Verhältnisse, jung mit dem Studieren angefangen habe, kann ich nicht behaupten, dass ein solches Verhalten unbedingt mit dem Alter zusammenhängt, sondern vielmehr mit der Organisation der Studienlandschaft und auch des Schulaufbaus, die hier Selbstständigkeit und ein „Aufsichgestelltsein“ kaum unterstützen.

Einer der wohl längsten Gänge der Welt - im Gebäude der 12 Kollegien

Nicht weniger geschockt war ich von den Lehrmethoden an der Fakultät, die mich oft an der Qualität der Ausbildung zweifeln ließen. Besonders dann, wenn unter dem Verfassen von Hausarbeiten das Herunterladen aus dem Internet verstanden wird oder Diplome ohne Wissen über den Inhalt verteidigt werden. Bei alledem darf man nicht vergessen, dass Downloaden von Arbeiten, Spicken in Prüfungen oder ähnliches sicherlich auch in Deutschland keine Ausnahmen sind und dass selbst der prestigereiche Name „Staatliche Universität St. Petersburg“ dergleichen nicht ausschliesst.

Das neue Denkmal vor dem Haupteingang der Universität - Glücksbringer für Prüfungen

 

Positiv überrascht hat mich allerdings der Fakt, dass viele Studenten schon bereits während des Studiums ihrer Spezialisierung entsprechenden Tätigkeiten nachgehen und so praktische Erfahrungen sammeln können. Das Absolvieren von unentgeltlichen Praktika, wie bei uns üblich, ist hier nicht verbreitet.

Soweit also ein kleiner Einblick in das Universitätsleben an der SPbGU, allen Studierenden in Deutschland für die bervorstehenden Prüfungen: ni puha ni pera!

Claudia Jutte

Juni 2007
Kommentare zur Weiterleitung an: redaktion@007-berlin.de

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