Zusammenfluss von Wolga und Oka. © Daniela Ließ

Liebe Leser/innen,

als russisches Onlineportal wollen wir natürlich nicht nur vielen russischsprachigen Einwohnern in der Hauptstadt eine Hilfe sein und Unterstützung geben, sondern sind in erster Linie auch an dem Kulturaustausch zwischen Deutschland und Russland interessiert.
Deshalb fragen wir uns nicht nur, was die russischen Bewohner unserer Stadt bewegt, sondern auch, wie Deutsche die Kultur in Russland erleben.
Wir freuen uns daher, Euch für die nächsten zehn Monate an dieser Stelle einen Einblick in das Tagebuch einer deutschen Studentin zu geben, die momentan ihr Auslandsstudium in Russland absolviert und uns in regelmäßigen Abständen von ihrem Leben dort berichten wird.

Was macht einen Russen aus? Wie definiert sich ein Deutscher in der fremden Kultur? Mit welchen Alltagsschwierigkeiten hat man als Ausländer in Russland zu kämpfen?
Diesen und vielen anderen Fragen werden wir an dieser Stelle nachgehen und Ihr seid herzlich zu diesem Kulturaustausch eingeladen.
Eure Meinungen, Ratschläge oder Anmerkungen zu den Tagebucheinträgen nehmen wir gerne entgegen und leiten sie gegebenenfalls an unsere Korrespondentin weiter.

 

1. Brief aus Nizhnij Novgorod

Nach sechs Semestern an der Uni wollte ich nicht mehr nur erahnen oder aus Büchern saugen, was Russland mit seiner Sprache und Kultur ausmacht, sondern mich endlich einmal selbst in den Osten begeben, um das Land und seine Menschen persönlich kennenzulernen.

Mit viel Mühe und Willenskraft ist es mir gelungen, vom Deutschen Akademischen Austauschdienst ein Jahresstipendium für ein Studienjahr in Russland zu erhalten.
Die Wahl meines Studienortes fiel auf Nizhnij Novgorod und die Staatliche Lobačevskij Universität. Zum einen wollte ich die Großstädte Moskau und St. Petersburg meiden und fühlte mich von der Zentralrussischen Landschaft angezogen. Zum anderen interessiere ich mich sehr für die Geschichte Nizhnijs, da die Stadt mit ihrem Handelscharakter schon früh früh für deutsch-russische Beziehungen stand. Auch die Verbundenheit mit dem Schriftsteller Gorki und das nahgelegene väterliche Gut Boldino des berühmten russischen Dichters Puschkin führten letztendlich zu dieser Entscheidung.

Durch die fast einjährige Vorbereitung meines Auslandsstudiums fiel es mir leichter, mich seelisch auf zehn Monate alleine in einem fremden Land einzustellen. Um ehrlich zu sein, war es für mich  ein großer Schritt, in Deutschland alles aufzugeben und Freunde und Bekannte für längere Zeit zu verabschieden. Doch die Vorfreude und Hoffnung auf ein wunderschönes Jahr in Russland haben die Trauer einigermaßen in Grenzen gehalten.
Der Auslandsaufenthalt bietet mir nicht nur im Sinne meines Studiums eine große Chance, sondern auch, um mich persönlich weiterzuentwickeln und Erfahrungen zu sammeln.

Inzwischen bin ich nun seit zwei Wochen hier und bereue es kein bisschen, diesen Schritt gegangen zu sein. Denn einen großen Kulturschock habe ich eigentlich nicht erlebt. Durch einen dreiwöchigen Aufenthalt in St. Petersburg im Sommer 2003 hatte ich zumindest eine Ahnung, worauf ich mich da einlasse. Somit war ich bestens vorbereitet, gleich am Flughafen bei der Passkontrolle auf die Launen der russischen Beamten zu stoßen, die mich nur ungern als die beschriebene Person im Reisepass identifizieren wollten. So musste ich mich von links nach rechts drehen und versuchen, wie auf einem Foto von vor drei Jahren auszusehen. Mit meinen unsicher gestotterten Sätzen auf Russisch und dem Versuch zu erklären, dass ich als deutsche Studentin hier die Sprache lernen will, ließen sie mich nach 25 Minuten dann doch passieren.

Am Flughafen wurde ich herzlich von meiner Gastfamilie empfangen und erlebte meine erste Autofahrt in der Stadt. Nachdem ich bald darauf als Fußgängerin unterwegs war, muss ich sagen, dass man hier so oder so gefährlich im Straßenverkehr lebt. Ampeln oder allgemeine Regelungen gelten hier eher weniger. Ich hab auch so den Eindruck, dass es fast genauso viele Autos wie Einwohner in Nizhnij gibt. Mit fast zwei Millionen Menschen ist die Stadt doch größer als ich angenommen habe. Sie wird von ihren Bewohnern auch als „dritte Hauptstadt Russlands“ oder „Hauptstadt der Wolga“ angesehen. Am Fuße der Stadt fließt die Oka mit der Wolga zusammen. Für mich ist das eindeutig die schönste Sehenswürdigkeit der Stadt, die man am besten von der Kremlmauer aus betrachten kann. Das Erste, was ich somit hier als Deutsche gelernt habe, ist, den Rhein oder die Elbe als „kleinen Fluss“ zu bezeichnen. Und im Anschluss daran, versteht sich im russischen Sinn alles, was näher als 500 Kilometer entfernt liegt, als „um die Ecke gelegen“.

Herzliche Grüße aus Nizhnij,
Daniela Ließ.

September 2005
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