Schneemann. © Daniela Ließ

16. Brief aus Nizhnij

Hurra, es wird endlich Frühling! Mit den ersten Graden über Null und wärmeren Sonnenstrahlen hat in Nizhnij vor kurzem das Tauwetter eingesetzt. Es ist unglaublich, welche Wassermenge durch den vielen Schnee entsteht und die Straßen in Bäche oder kleine Teiche verwandelt. So schlimm wie derzeit in einigen Teilen Deutschlands und Tschechiens ist es hier allerdings nicht. Mit dem vollständigen Auftauen von Wolga und Oka wird aber auch in einigen Stadtteilen Nizhnijs wie jedes Jahr leichtes Hochwasser erwartet. Für die Russen ist das jedoch schon zu einer Gewohnheit geworden, womit sie dem Ganzen relativ gelassen entgegenblicken.

Wolga. © Daniela Ließ

Der schmelzende Schnee bringt durch seine große Menge jedoch zusätzlich noch einige andere Gefahren mit sich, die mir vorher, ehrlich gesagt, noch nie so bewusst waren. Nicht nur im Winter, sondern vor allem in der momentanen Tauwetterperiode sind viele mutige Arbeiter verstärkt damit beschäftigt, sämtliche Hausdächer der Stadt von Schnee und Eis zu säubern. Auch die Einwohner sind bei ihren Balkonen oder Vordächern dringend dazu aufgefordert. Zum einen soll damit die Einsturzgefahr einiger Gebäude gemindert werden, zum anderen stellen herunterfallende Eisblöcke oder Schneelawinen eine ernsthafte Gefahr für Fußgänger sowie den Verkehr dar. Selbst in den Nachrichten wird gewarnt, derzeit möglichst nicht direkt an Hauswänden entlang zu gehen, da es bereits einige Verletzte und sogar schon zwei Todesopfer gab, die durch eine herunterrutschende Ladung Schnee von einem Hausdach ums Leben kamen. Auch mehrere parkende Autos wurden dadurch beschädigt oder haben sogar Totalschaden erlitten.

Zusammenfluss. © Daniela Ließ

Mit dem tauenden Schnee kommt in der Stadt auch wieder vermehrt der Dreck und Müll auf den Straßen ans Tageslicht. Dies stellt in meinen Augen allerdings leider nicht nur in Nizhnij ein großes Problem dar. Ich finde es sehr traurig, dass die meisten Russen eine sehr achtlose Einstellung zu ihrer Umwelt haben. Mit Bedauern beobachte ich fast täglich, wie viele Passanten ihre Abfälle ganz selbstverständlich einfach auf die Straße werfen und die Papierkörbe mit der Aufschrift „Saubere Stadt“ zum Großteil ignoriert werden. Außerdem war ich geschockt, als ich zum ersten Mal die Müllberge am Wolgaufer gesehen habe.

Schneeschaden. © Daniela Ließ

Die Sorglosigkeit der Russen in Sachen Umweltschutz zeigt sich in meinen Augen ebenso durch ihren enorm hohen Wasserverbrauch. Durch einen relativ geringen monatlichen Einheitspreis lernt dieses Gut dementsprechend hier leider niemand wirklich zu schätzen. Was umweltfreundliche Recyclingverpackungen betrifft, wird man die allzweckdienende Plastiktüte hier wohl auch nur schwer vertreiben können. Das ausgeklügelte deutsche Mülltrennungssystem fassen die meisten Russen sogar eher lustig auf und machen dafür bedauerlicherweise weniger die Wichtigkeit des Umweltschutzes, sondern vielmehr die in ihren Augen penible Art des deutschen Charakters verantwortlich.

Müll. © Daniela Ließ

Durch die vielen Abfälle und Müllecken auf der Straße finden die herrenlose Hunde und Katzen in Nizhnij jedoch zum Großteil immer etwas zu fressen. Ich habe sogar den Eindruck, dass es vor allem den streunenden Hunden oft besser als vielen anderen Haustieren geht, da die meisten sehr wohlgenährt aussehen und durch ihr geselliges Leben in Rudeln mit viel Auslauf auf ihre Art zufrieden erscheinen. Allerdings stellen sie für die Gassi gehenden Hundebesitzer oft ein großes Ärgernis dar und sind vor allem im Winter durch Kälte und Hunger auch für die Menschen nicht ganz ungefährlich.

Wolgaufer. © Daniela Ließ

Ebenso typisch für den Alltag im Stadtzentrum von Nizhnij sind die Straßenmusikanten und Bettler, deren Tätigkeit zum Großteil den Lebensunterhalt sichert. Einige von ihnen erscheinen mir jedoch oft etwas aufdringlich und werfen damit in meinen Augen ein zunehmendes moralisches Problem auf.

Strassenhunde. © Daniela Ließ

Die Armut und der große Unterschied zwischen arm und reich gehören wie in ganz Russland auch in Nizhnij demnach zu einem der größten Probleme. Dies kann man unter anderem auch an den Abstufungen der einzelnen Stadtteile erkennen. Interessant finde ich, dass jeder der acht Regionen Nizhnijs unter der Bevölkerung besondere Eigenschaften zugeschrieben wird. Das führt allerdings dazu, dass viele Menschen in erster Linie nach ihrem Wohnort bewertet werden und oft mit Vorurteilen zu kämpfen haben. Das Zentrum gilt als der beste Ort zum Wohnen, da vordergründig damit die anstrengende und nervenaufreibende Abhängigkeit vom öffentlichen Nahverkehr erspart bleibt. Während meines Aufenthaltes wurden inzwischen schon zwei Mal die Fahrpreise erhöht, was viele Einwohner noch gereizter auf den Personentransport reagieren lässt. Andererseits ist die Stadt jedoch sichtlich bemüht, die Sicherheit für die Passagiere zu erhöhen und hat inzwischen strengere Bestimmungen und Überprüfungen für die Marschrutkas und Busse eingeführt.

Ampel. © Daniela Ließ

Zu den besonders lobenswerten fortschrittlichen Erneuerungen im Verkehr zählt sicher auch eine vor kurzem installierte Ampel, die an einer sehr breiten und gefährlichen Straße die verbleibenden Sekunden der Grünphase für Fußgänger anzeigt. Sowas habe ich noch nicht mal in Deutschland gesehen...

Viele Grüße aus Nizhnij,
Daniela Ließ

April 2006
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