Zusammenfluss. © Daniela Ließ

5. Brief aus Nizhnij

Es war wirklich kaum zu glauben, als Ende Oktober hier in Nizhnij der erste Schnee fiel und  das Thermometer tagsüber minus 10 Grad Celsius anzeigte. Ich war ehrlich gesagt etwas geschockt, als ich eines Morgens aus dem Fenster schaute, da ich doch nicht so früh mit dem Winter gerechnet habe. Selbst die Russen waren sehr überrascht von der frühen weißen Pracht. Es gab dazu im Fernsehen sogar Sonderberichte in den Nachrichten, worüber ich schon etwas schmunzeln musste. Doch auch ich konnte den ersten Schnee als sensationelle Neuigkeit am Telefon nach Deutschland verkünden, wo man ja anscheinend immer noch im Spätsommer wandelt...

Der Erste Schnee © Daniela Ließ

Doch damit scheint sich zumindest das allgemeine Vorurteil über Russland zu bestätigen, dass es hier viel Schnee gibt und sehr kalt ist. Trotzdem lasse ich mich nicht davon abhalten, vor Ort auch den Winter zu verbringen. Ich denke, dass Russland ohne Schnee und Kälte nicht Russland wäre und der Winter eben DIE russische Jahreszeit ist. Außerdem bin ich der Meinung, dass nicht nur die andere Kultur, sondern auch das andere Klima meinen persönlichen Erfahrungsschatz bereichert.

Vor meiner Abreise wurde ich aber durch viele nicht nur zum wiederholten Mal mit dem berühmten Wetterklischee konfrontiert, sondern durfte mir auch noch ganz andere in Deutschland verbreitete Vorurteile über Russland anhören.

Der Erste Schnee © Daniela Ließ

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die meisten Deutschen, die wenig Bezug zu dem Land haben, sofort an Moskau, die Kälte Sibiriens, Wodka, Mafia, Kriminalität, schlechte Lebensbedingungen, die Sowjetunion oder Lenin denken, wenn sie das Wort Russland hören. Auf der anderen Seite fallen aber auch Begriffe wie Matroschka, Druschba, russische Seele, russisches Öl, Samowar, Puschkin oder Putin. Doch im allgemeinen stelle ich fest, dass bei den meisten Deutschen negative Assoziationen vorherrschend sind. Ich meine zu spüren, dass die enge historische Verbundenheit zwischen den Nationen in den Köpfen der meisten durch die Gegenwart unwesentlich geworden ist und Russland mit seiner Kultur, seinen Problemen und Einwohnern gedanklich weit von Deutschland entfernt ist.

Das erklärt auch, dass ich im Vorfeld meines Auslandsaufenthaltes bei vielen auf Verwunderung und leider oft auch wenig Verständnis für mein Interesse an Russland gestoßen bin. Nicht selten musste ich lange Erklärungen abgeben, was mich ausgerechnet hierher zieht. Allerdings kam im Vorfeld von allen scherzhaft die Frage, wie es mit meiner Trinkfestigkeit bestellt ist. Das weist in meinen Augen zum einen auf die Beliebtheit und Bekanntheit des russischen Wodkas in Deutschland hin. Zum anderen zeugt es aber auch davon, dass das Bild von den betrunkenen, feierfreudigen und damit oft unglaubwürdig wirkenden Russen in den Köpfen der Deutschen sehr fest sitzt. Ich habe auch den Eindruck, dass Russland im Gegensatz zum modernen Deutschland als bemitleidenswert rückständig eingestuft und damit von vielen belächelt wird.

Stadtwappen © Daniela Ließ

Hier in Russland habe ich dagegen festgestellt, dass die Vorurteile über Deutschland auf wesentlich mehr Wissen über Land und Kultur basieren und damit auf mich weniger überheblich wirken. Besonders die Wertschätzung der deutschen Qualität (vor allem Autos, Bier, Technik), Sauberkeit, Strebsamkeit und Pünktlichkeit drückt in meinen Augen die Achtung der Russen gegenüber Deutschland aus. Auf der anderen Seite sehen sie die Deutschen jedoch als ein sehr verschlossenes, unnahbares Volk an und verweisen dabei besonders auf ihre verkniffenen und meist unfreundlichen Gesichter.

4 November © Daniela Ließ

In vielen Gesprächen hat sich mir inzwischen noch deutlicher gezeigt, dass das Leben in Deutschland mehr auf Status und materielles Denken ausgerichtet ist. Das russische Volk zeichnet sich im Gegensatz dazu in meinen Augen mehr durch Emotionalität und ein nationales „Wir-Gefühl“ aus. 

Es ist hier daher zum Beispiel nicht ungewöhnlich, dass man von Fremden mit einer Umarmung begrüßt wird und offizielle Reden mit „Liebe Freunde“ beginnen. Darin zeigt sich die offenherzige Mentalität des russischen Volkes, in die auch der in Deutschland übliche „körperliche Sicherheitsabstand“ nicht passt.
Da die meisten hier ziemlich viel über Deutschland wissen, enden Gespräche nicht selten in interessanten politischen oder kulturellen Debatten: Was denken die Deutschen über Tschetschenien? Welche Veränderungen wird es nach den letzten Wahlen in Deutschland geben? Warum sind die sozialen Unterschiede zwischen Deutschland und Russland so groß? Welche Beziehung haben die Deutschen zur klassischen Literatur?
Wie ich festgestellt habe, ist das Interesse an Deutschland hier im Allgemeinen sehr groß, was sich auch darin zeigt, dass viele an der Universität mit Eifer Deutsch lernen.

Denkmal Lenin © Daniela Ließ

Eine Studentin klagte mir neulich jedoch ihr Leid mit den deutschen Zahlwörtern. Sie fragte mich, ob die Deutschen die Zahlen eigentlich so schreiben, wie sie sie sprechen (bei 58 also zum Beispiel zuerst die 8 und dann die 5). Als ich verneinte, habe ich mich bei ihr im Gegenzug allerdings über die Schwierigkeiten der Deklination und Konjugation sowie der unregelmäßigen Betonung im Russischen beschwert. Auch das ist Kulturaustausch...

Viele Grüße aus Nizhnij,
Daniela Ließ.

November 2005
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