Briefkasten. © Daniela Ließ

7. Brief aus Nizhnij

Nach drei Monaten in Russland konnte ich vor kurzem wohl einen meiner bisher größten persönlichen Erfolge feiern: Ich war alleine auf dem Markt und in einem Geschäft ohne Selbstbedienung einkaufen. Für alle, die noch nie hier waren, klingt das vielleicht etwas verrückt, aber alle Russlandkenner wissen sicher, wovon ich rede.

Markt. © Daniela Ließ

Was man auf dem Markt und in solchen Läden nämlich vor allem braucht, sind gute Russischkenntnisse. Sonst bekommt man es noch mehr mit der Unfreundlichkeit der Verkäuferinnen zu tun als ohnehin schon. Auch an der Universität ist das Studium in der Fremdsprache für mich inzwischen selbstverständlich geworden und ich bewundere mit Erstaunen den Zuwachs meiner Mitschriften aus den Vorlesungen. Die Hefte meiner russischen Kommilitonen sind durch die inhaltlich umfangreichen Vorlesungen im Laufe des Semesters schon zu kleinen Büchern angewachsen. Wie zu meinen Grundschulzeiten legen die meisten Studentinnen hier bei ihren Mitschriften sehr viel Wert auf Schönschrift, Sauberkeit und die farbliche Gestaltung. Somit könnte man ihre Aufzeichnungen auch gewissenlos in die Bibliothek als Nachschlagewerke stellen.

Bibliothekskatalog © Daniela Ließ

Wie ich jedoch festgestellt habe, nutzen die russischen Studenten im Unterschied zu den deutschen die Bibliothek während des Semesters bedeutend weniger. Zum einen mag das vielleicht an der hier wenig geförderten Selbstständigkeit der Studierenden liegen. Ein weiterer Grund könnten aber auch die oft fehlende Zeit und Nerven für das unbequeme und aufwendige russische Bibliothekssystem sein. Ich war ehrlich gesagt etwas geschockt, als ich zum ersten Mal in einer öffentlichen Bibliothek war. Verwöhnt von den deutschen Zuständen, kostete mich hier ein Besuch der Bibliothek anfangs jedes Mal fast genauso viel Nerven wie eine Fahrt im öffentlichen Nahverkehr. Einen komfortablen computergestützten Medienkatalog gibt es nicht, sondern wie zu alten Zeiten muss man sich selbst durch Unmengen von kleinen Karteikärtchen wühlen. Diese verzeichnen den Bestand der Bibliothek und sind in raumfüllenden Schubladenkästen systematisch eingeordnet. Bis man gefunden hat, was man sucht, kann anfangs mehr als eine Stunde und dabei durchaus auch die Lust am Lesen vergehen.

Gorkijlesesaal. © Daniela Ließ

Doch die eigentliche Geduldsprobe besteht darin, sich mit ausgefüllten kleinen Zetteln, die die gewünschte Literatur verzeichnen, an der Bücherausgabestelle anzustellen. Dort gibt es fast immer eine lange Warteschlange, wo mit Vorliebe unhöflich vorgedrängelt und geschubst wird. Wenn man also nicht stundenlang auf den Anstand der anderen oder sein eigenes Glück warten möchte, sollte man sich meinen Erfahrungen nach in besonderen Situationen als Ausländer ebenso dieser Eigenschaft bedienen. Die nächste Schikane für Bibliotheksnutzer besteht darin, für jedes ausgegebene Buch einen Zettel mit Datum, Namen und Leseausweisnummer auszufüllen, was manchmal schon etwas lästig sein kann. Da ich selbst erfahren habe, wieviel Nerven und Geduld die ganze Prozedur insgesamt  kostet, weiß ich das Computersystem in deutschen Bibliotheken nun um so mehr zu schätzen. Wer es in Russland schafft, die Bibliothek für eine Doktorarbeit oder ähnliches zu nutzen, hat in meinen Augen einen Extraorden verdient. Das bekannte deutsche Ausleihsystem gibt es hier nämlich nicht, sondern man darf alle Bücher nur im Lesesaal einsehen. Allerdings finde ich es schade, dass auch dort ein ständiges Handyklingeln fast schon dazugehört. Skrupellos wird übrigens nicht nur in der Bibliothek, sondern ebenso während der Vorlesungen in der Universität telefoniert. Selbst Professoren und Dozenten bilden da keine Ausnahme, was ich persönlich ziemlich beschämend finde.

Schkalovskij Denkmal und Kremlturm. © Daniela Ließ

Russland lehrt mich allerdings nicht nur durch das Bibliothekssystem, dankbarer für das zu sein, was ich in Deutschland bisher fast für selbstverständlich gehalten habe. Ein weiteres Beispiel dafür sind meine Erfahrungen mit der russischen Post. Auch für Postbesuche gilt hier wieder die allgemeine Regel: Nerven, Geduld und vor allem viel Zeit mitbringen, denn auch hier gibt es ständig lange Warteschlangen an den Schaltern. Das liegt allerdings nicht daran, dass die Russen sehr schreibfreudig sind, sondern dass sie ihre Rechnungen für Miete, Strom, Telefon usw. monatlich auf der Post bezahlen müssen. Die nervenaufreibende Prozedur mit vielen handausgefüllten Zetteln führt nicht selten zu lautem Geschimpfe und einer gereizten Stimmung unter den Postmitarbeitern und Kunden. Von den in Deutschland üblichen bequemen Banküberweisungen können Russen wohl nur träumen...

Briefkasten © Daniela Ließ

Die russische Art der Briefmarkenfrankierung ist mir bis heute ein Rätsel, da sie anscheinend weniger von festgelegten Preisen, sondern vielmehr von der Laune des jeweiligen Postbeamten abhängt. Was ich jedoch sehr lustig finde, sind die Leerungszeiten auf den Briefkästen, die paradoxerweise minutengenau angegeben sind. Das entlockt mir jedes Mal wieder ein Lächeln, denn die bekannte russische Unpünktlichkeit ist auch hier in Nizhnij überall verbreitet!

Blick auf Wolga © Daniela Ließ

 

Herzliche Grüße aus dem winterlichen Russland,
Daniela Ließ.

Dezember 2005
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