Blick auf eine Kloster Kirche. © Daniela Ließ

9. Brief aus Nizhnij


Mit viel Glück und Freude ist auch Nizhnij Novgorod in das neue Jahr gerutscht und hat ausgiebig das Neujahrsfest begangen. Mit reich gedecktem Tisch, geschmücktem Jolkabaum und viel guter Laune habe ich zusammen mit Freunden aus der Universität schon zum zweiten Mal Silvester in Russland gefeiert. Was mich auch dieses Mal wieder tief beeindruckt hat, war die traditionelle Ansprache des russischen Präsidenten Wladimir Putin, die kurz vor 24 Uhr auf allen Kanälen im Fernsehen läuft. Man hat den Eindruck, als ob in diesen Minuten das ganze Land stillsteht. Alle lauschen mit Spannung Putins Worten und warten im Anschluss daran auf die zwölf Glockenschläge aus dem Moskauer Kreml. Spätestens wenn danach die feierliche Nationalhymne aus dem Fernseher erklingt und zu Hause die Sektgläser klirren, kann man sich sicher sein, dass man wohlgesonnen gemeinsam mit dem russischen Volk und ihrem Nationalstolz ins neue Jahr gerutscht ist.

Holzkirche 18 Jh. © Daniela Ließ

In Sachen Feuerwerk und Knallerei in der Silvesternacht konnte ich auch in diesem Jahr keinen großen Unterschied zu Deutschland feststellen. Trotz wenig Geld lässt sich das eben auch hier niemand nehmen. Auf mich wirken die Russen nur wesentlich offenherziger in ihrer Feierlaune, was sich daran zeigt, dass lange Menschenschlagen (egal ob jung, ob alt) durch die Straßen tanzen und sich auch Fremde auf der Straße gegenseitig alles Gute zum neuen Jahr wünschen.

Jolkabaum. © Daniela Ließ

Wie ich festgestellt habe, sind die Feiertage rund um das russische Jolkafest besonders auch für die kleinen Stadtbewohner eine sehr aufregende Zeit. In fast allen Theatern, Museen und Konzertsälen wurden ausschließlich Veranstaltungen für Kinder angeboten, bei denen über die Weihnachtstradition berichtet, traditionell um hübsch geschmückte Tannenbäume getanzt wird und natürlich kleine Geschenke verteilt werden. Dafür müssen die Kinder sogar ein Gedicht aufsagen oder etwas vorsingen, was mich noch an die alten Zeiten meiner Kindheit erinnert. Während das Weihnachtsfest in Deutschland ja leider immer mehr an Tradition verliert, scheint man hier in Russland dagegen meiner Meinung nach noch etwas mehr Sinn für den Ursprung der Feierlichkeiten zu haben. Auch die Wünsche für das neue Jahr, die man untereinander austauscht, wirken auf mich weniger stereotyp, sondern herzlicher und ehrlicher.

Jolkabaum. © Daniela Ließ

Wie ein kleines Kind habe auch ich mich gefreut, als der russische Weihnachtsmann Väterchen Frost in traditionell blau-weißer Festtracht mit seiner Begleiterin Snegurotschka Ende Dezember die Stadt besucht hat. Auf mich wirkt Väterchen Frost ehrlich gesagt um vieles beeindruckender als der deutsche Weihnachtsmann.
Allerdings habe ich hier auf der Straße auch viele rote Weihnachtsmänner, amerikanische Weihnachtsmusik und bunt flimmernde Tannenbäume angetroffen, was mich etwas traurig gemacht hat, da diese Dinge mit der russischen Tradition bekanntlich wenig zu tun haben und eigentlich gar nicht hierher gehören. Aus China ist in den letzten Jahren nach Russland auch die Sitte übergeschwappt, jedes Jahr mit einem bestimmten Symbol zu verbinden. 2006 ist demnach das Jahr des Hundes. (Und als ob es kein Zufall ist: Ich bin im Jahr des Hundes geboren.) Welche konkrete Bedeutung hinter diesem Symbol steht und warum man in Russland diesen Brauch eingeführt hat, konnte mir hier allerdings paradoxerweise noch niemand sagen. Dafür gibt es an jeder Ecke Plüschhunde in den verschiedensten Varianten und alles mögliche mit einem Hundemotiv zu kaufen.

Kremlmauer. © Daniela Ließ

Das russische Weihnachtsfest, das am 7. Januar gefeiert wird, hat mit dem allgemeinen Kommerz jedoch wenig zu tun, da es streng kirchlich und mit dem russisch-orthodoxen Glauben verbunden ist.
In Nizhnij habe ich inzwischen fast alle Kirchen besichtigt, die hier in einer großen Vielzahl und Verschiedenheit zu finden und eng mit der Stadtgeschichte verbunden sind. Man kann hier wahre kirchliche Architekturkunstwerke und –denkmäler bewundern, die auch vom Interieur her für mich einen Museumscharakter tragen.
Von dem russischen Glauben und den Gotteshäusern geht für mich ein Zauber aus, der jedoch nicht nur vom überwältigenden äußeren und inneren Erscheinungsbild der Kirchen mit ihren Goldkuppeln und Ikonenwänden herrührt.

Kirche. © Daniela Ließ

Was mich fasziniert, ist die unbeschreibliche geistliche Atmosphäre in den Kirchen und die Vielschichtigkeit, die vom russischen Glaubens- und Kirchensystem ausgeht. Ich würde mir manchmal gerne ein lebendes Lexikon an meiner Seite wünschen, dass mir vor Ort die unterschiedlichen Gebräuche, Gegenstände und Regeln erklärt. Doch mit der Besichtigung einer russischen Kirche bekommt man meiner Meinung nach auch mit relativ wenig Hintergrundwissen eine Ahnung davon, wie eng Geschichte, Glaube und letztendlich auch Macht in Russland verbunden waren und sind.
In Nizhnij gibt es neben den vielen Kirchen sogar drei Klöster, Geschäfte für Ikonen sowie kirchliche Literatur und mehrere Bildungseinrichtungen für zukünftige Kirchendiener.
Dies zeigt ganz deutlich, dass der Glaube und das Kirchentum in Russland auch heute noch eine sehr wichtige Rolle spielen.

 

Mit den besten Wünschen zum neuen Jahr aus Nizhnij,
Daniela Ließ.

Januar 2006
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