Der deutsche Gentleman – ein Mythos
oder: können russische Frauen und deutsche Männer zueinander finden?

von Julia Harke

Unser Denken und Handeln ist von stereotypen Bildern und Szenen, die wir uns von uns selbst und anderen machen, bestimmt. So vertraute man lange Zeit auf die preußischen Tugenden, wie Pünktlichkeit ("Pünktlichkeit ist die Eigenschaft der Könige"), Fleiß, Zielstrebigkeit; die Deutschen sind konzentriert, sie sind sparsame Ordnungsfanatiker. Gesetzestreue sowie eine gewisse Distanziertheit sind weitere Eigenschaften, die von den ehemaligen Sowjetbürgern an den Deutschen bewundert werden. Diejenigen, welche die Verkörperungen des Inbegriffes der Vollkommenheit nun besser kennen lernen durften in Folge eines längeren Aufenthalts in diesem schönen Lande wurden oft eines besseren belehrt. Auch die Deutschen selbst eifern diesen Idealen nach, hecheln ihnen aber eher hinterher. Die Eines-Besseren-Belehrten sehen die Deutschen nun als zurückhaltend, unflexibel, etwas langweilig und schlecht gekleidet. Wir wollen aber nicht den allgemeinen Typ des Deutschen bestimmen und kritisieren, sondern vielmehr eine Charakteristik des Benehmens der deutschen Männer versuchen.

Viele Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion, vor allem die jungen, können es sich unter keinen Umständen vorstellen, mit einem deutschen Mann zusammen zu sein, ihn zu heiraten, Kinder mit ihm zu bekommen und den Rest des Lebens mit ihm zu verbringen. Man kommt aus verschiedenen Kulturkreisen und hat unterschiedliche Ansichten in vielen Bereichen. Der Deutsche wird die sanfte, weite und verletzliche Seele der russischen Frau nie wirklich begreifen. Dass es zu solch weit reichenden Folgen wie Heirat überhaupt kommt, wird häufig schon in der Kennenlernphase ausgeschlossen. Denn das Benehmen, der erste Eindruck und das Verhalten der deutschen Männer lassen viel Raum für Wünsche offen. Ob ein deutscher Mann eine Frau aus der ehemaligen Sowjetunion überhaupt will, ist eine ganz andere Frage und ist hier nicht von Belang.

Immer wieder beklagen sich die russischen Frauen, deutsche Männer wüssten nicht mehr, wie man sich einer Frau gegenüber zu benehmen hat. Es fange damit an, dass die  russische Frau es von klein auf gewohnt ist, auch als Frau wahrgenommen zu werden. Die Emanzipationsfrage knirscht hier leise, aber fordernd im Hintergrund, wird aber schonungslos umgangen. Die russischen Männer halten sich an traditionelle Höflichkeitsformen: Sie sehen es als selbstverständlich an, dass den Frauen die Tür aufgehalten, die Hand zum Aussteigen gegeben und das Essen im Restaurant auch vom Mann bezahlt wird. Hier sind die wenigsten Frauen so weit emanzipiert, dass sie auf diese feinen Kleinigkeiten verzichten wollen.

Auch die sehr heikle Angelegenheit des Geldbesitzes und Ausgebens ist interessant zu betrachten. Der Deutsche, der sein Geld zusammenhält und geschäftstüchtig ist, legt die Spanne des Geldausgebens von ehrwürdig sparsam bis unangenehm geizig an. Für das unterschiedliche Verhalten des Russen und des Deutschen in einer charmanten geselligen Runde existiert im kollektiven Bewusstsein eine typische Szene: Während am Ende einer feuchtfröhlichen Kneipenrunde Russen untereinander wetteifern, wer nun die Rechnung für alle bezahlen darf, sehen sich die Deutschen mit dem Taschenrechner konfrontiert, der den präzisen Betrag für jeden einzeln ausrechnet: "Die weite Seele kennt keine Sparsamkeit" gegenüber der "Geiz ist geil" – Mentalität. Die Russen sind meist freigiebiger und verschwenderischer – ob in diesem Fall die Ehefrau die weite Seele seines für seine "versoffenen Kumpanen" zahlenden Ehemannes entsprechend würdigt, sei dahingestellt. Wer aber beim gemeinsamen Essen in einem Restaurant die Frau nicht selbstverständlich einlädt, markiert nicht unbedingt das sparsame Männchen, das für seine Familie sorgen kann, sondern macht mit dem ehrbaren Vorsatz des Geldbeisammenhaltens eine unschöne Figur. Äußerst peinlich ist auch, wenn er im Restaurant den Rechnungsbetrag durch zwei teilt, nachdem er viel mehr als die Frau gespeist und getrunken hat.

Viele Frauen behaupten, man könne bei der ersten Begegnung Deutsche von Nichtdeutschen ganz leicht unterscheiden.  Die  Deutschen benehmen sich sachlicher und machen sich nicht viele Gedanken beim Aussuchen ihrer Abendgarderobe. Meist sind sie etwas steif und müssen sich zuerst Mut antrinken, bevor sie einer Frau ein Kompliment machen können. In dem Punkt sind die meisten russischen Männer ganz Kavaliere und teilen reichlich große Stücke vom Komplimentenkuchen aus. Die russische Frau hätte es einem ja auch schwer machen können und mittelmäßig bis schlecht aussehen. Aber wenn sie es doch einem so leicht macht und zum Anbeißen aussieht! Wie kann man da widerstehen und ein Kompliment unterdrücken?

Der 8. März (Frauentag) ist ein heiliger Feiertag bei den Russen, nicht nur bei den Frauen, sondern auch bei den Männern. Das starke Geschlecht sollte ihn nicht vergessen. Es tut es meistens auch nicht -  denn hat der Mann diesen Tag einmal ganz verschwitzt und seiner Frau keine Blumen mitgebracht, kann sie ein ganzes Jahr schmollen. Oder noch länger. Wie es ihr nun eben passt. Schlimmer noch als den Feiertag zu vergessen, ist, einfach keinen zu haben. Zwar gibt es in Deutschland auch einen Feiertag, der den Frauen gewidmet ist; er schließt aber diejenigen aus, die noch oder ganz und gar keine Mütter sind. Hier sind die deutschen Männer aus dem Schneider – was es nicht gibt, kann auch nicht vergessen werden.

Apropos Schneider: Eine weitere Besonderheit, welche russische Frauen den deutschen Männern entfremdet, ist die völlige Unkenntnis, wie sich diese knifflige Sache mit dem Werkzeug verhält, welches jahrelang im nagelneuen Zustand einsam und verlassen in der Garage schlummert. Wenn der Russe ein paar verrostete Nägel, etwas Kleber und Blech auftreiben kann, baut er mit viel mit der Muttermilch eingesaugtem Geschick und genetisch verankertem Sachverstand für Handwerk in wenigen Stunden ein Auto zusammen. Das imponiert und erweist sich oft als sehr nützlich im Haushalt. Leider können da deutsche Männer nicht mithalten und fühlen sich als Helden der Nation, wenn sie einen Nagel in die Wand schlagen können, ohne dass es Verletzte gibt.

Der Russe ist stets bestrebt, eine Frau zu finden, sie möglichst schnell zu heiraten und ein schönes, sauberes Heim zu haben, in dem er sein oben beschriebenes heimwerkliches Geschick einsetzen kann. Der Deutsche ist im Bindungs- und Verpflichtungswald eher ein scheues Reh – hat hier und da ein Kind, ist über vierzig, aber Heiraten ist noch lange kein Thema – "Ich bin doch noch viel zu jung!" und: "Mich kriegst du nicht unter die Haube, ich will noch Spaß im Leben haben und mein Singledasein genießen!" Dieses besteht dann oft aus regelmäßigen Kneipenbesuchen oder irgendetwas anderem – ich weiß auch nicht, was dieses "andere" ist. Vielleicht besteht das Singledasein eines über vierzigjährigen Deutschen aus spannenden und aufregenden Ereignissen und Unternehmungen. Sie wollen bloß nicht verraten, was sie singlemäßig anstellen, um ihr Leben noch so richtig zu genießen!

Darüber, ob deutsche Männer die russischen Geschlechtsgenossen in Gefühlssachen übertreffen, traue ich mich nicht zu äußern, denn auf diesem Gebiet ist jeder Mensch und vor allem jeder Mann sehr individuell. Und es findet ja auch (fast?) jeder Mann eine passende Frau. Der, der sucht. Vielleicht keine Russin. Aber die wäre vielleicht auch nicht passend.

Männer aller Länder, vereinigt euch und offenbart, wie fabelhaft ihr seid!

© Photo von 007-berlin.de

Kommentare zur Weiterleitung an: redaktion@007-berlin.de

Archiv:
36. Yvonne Büdenhölzer, Leiterin des Theatertreffens, über das bedeutendste Theaterfestival in Deutschland
35. Gereon Sievernich: Das Kunstwerk entsteht erst im Auge des Betrachters
34. Thomas Oberender: Die Gesellschaft kann und muss lernen sich zu streiten
33. Sommer in russischer Provinz / Olga Schtyrkina
32. Ein Semester in St. Petersburg / Claudia Jutte
31. Herr Ober, das Salz bitte! / Rezension von Philipp Goll
30. einshochzwei ist dreihochsternchen / wibx
29. Ein Semester in St. Petersburg von Claudia Jutte
28. Berlinskij Episod. Eine Hommage an Berlin, gut gekleidetet deutsche Männer und: das Lachen. Von Philipp Goll
27. Merle Hilbk "Sibirski Punk" : Ein Sommerblues von Anna Brixa
26. ein einblick. ein ausblick. geblickte momente/Mode in St. Petersburg / wibx
25. wiederkehr. neue einkehr/ eine reise nach sankt petersburg / wibx
24. Über den heroischen Slam ein paar Worte...Kritik einer Zuschauerin. Von Natalja Fedorowa (auf russisch)
23. Lena Kvadrat / artpoint / wibx
22. Sonne für die Ohren - Rezension zum Album "Na svjazi" von Markscheider Kunst von Anton Zykov
21. Der Russe - Ein Porträt von Anton Zykov.
20. Töne des Untergrunds - Russische Straßenmusikanten in Berlin von Anton Zykov.
19. Banja, Wobla und Weniki oder eine Gebrauchsanweisung zur russischen Sauna von Mariana Kuzmina.
18. Der deutsche Gentleman ein Mythos oder: können russische Frauen und deutsche Männer zueinander finden?, von Julia Harke
17. Literaturkritik von Twerdislaw Zarubin (auf russisch)
16. "Grüne Woche" (2006) von Mariana Kuzmina (auf russisch)
15. Kann ich dir helfen, Bruder? Gedanken zur russischen Brüderlichkeit von Julia Harke
14.1. Das Russen ABC für Berliner
14. Briefe aus Nizhnij Novgorod von Daniela Ließ
13. Wen der Osten schön macht oder warum russische Frauen besser aussehen von Julia Harke
12. Gespräch mit dem Regisseur Egor Konchalowsky von Anja Wilhelmi (auf russisch)
11. Archive Agent-007 (auf russisch)
10. Kunstherbst 2005 (auf russisch)
09. Leben im Wohnheim Multi-Kulti. Ein Erfahrungsbericht aus Frankfurt/Oder von Claudia Jutte
08. Offener "Russischer Slam" in Berlin! (auf russisch)
07. Licht und Farbe in der Russischen Avantgarde (auf russisch)
06. Art Forum 2004 (auf russisch)
05. Die Russischen Filme auf der Berlinale 2005 von Matthias Müller-Lentrodt
04. Gespräch mit dem Architekten Sergei Tchoban (auf deutsch) (auf russisch)
03. Gespräch mit dem Fotografen Boris Michajlov
02. Eine Art Reisetagebuch von Sophie Hofmann
01. Mit der Schauspielerin Irina Potapenko sprach Tim-Lorenz Wurr.