Töne des Untergrunds
Russische Straßenmusikanten in Berlin

von Anton Zykov

U-Bahnhof Friedrichstraße. Der dunkle, bleichgelbe U-Bahnschacht ist leer. Die Krawattenträger sitzen noch in ihren Büros und steigern fleißig das Bruttosozialprodukt des Landes und die Touristen kleben an den Fensterscheiben der Sightseeing-Busse.

Ein kalter Windstoß strömt aus dem winterlichen Berlin in den U-Bahnschacht und verteilt sich in seine entlegensten Ecken. Erfolglos sucht ein Mann hinter einem Mauervorsprung Schutz vor der Kälte. Er trägt eine dicke Daunenjacke und unter ihr mindestens zwei Pullover. Auf seinem Kopf ist eine Mütze mit Hundeohren, die seine Wangen vor der Kälte schützen sollen. Der Mann ist Musiker und hat heute, wie fast jeden Tag, einen Auftritt mit seinem Akkordeon. Sein Publikum ist groß, doch ist es auch sehr unaufmerksam und oft, so scheint es, bemerkt es ihn erst gar nicht.

Aber das macht ihm nichts. Nach einer kleinen Erholungspause schließt der Mann die Augen und drückt auf die Tasten des Instruments. Der leere Schacht füllt sich mit den Tönen eines französischen Chansons. Zwei hübsche Frauen gehen vorbei und werfen etwas Geld in die auf dem Boden ausgebreitete Tasche. Der Musiker bedankt sich mit einem Lächeln.

Er ist Russe, ist Anfang 50 und lebt seit 4 Jahren in Berlin. In seiner Heimat war er professioneller Musiker. "Hier gibt es so einen Beruf nicht, hier in Deutschland.", sagt er und meint damit, dass es für ihn hier keine Arbeit gebe. Deswegen fing er vor ungefähr zwei Jahren an auf der Straße und auf Bahnhöfen zu spielen. "Die Arbeit ist sehr hart. Zudem ist es kalt." Trotzdem lacht er viel und seine müden Augen beginnen zu funkeln, wenn er von sich, seinem Leben und von der Musik erzählt.

Das Schicksal des Mannes ist bezeichnend für viele Straßenmusikanten Berlins. Die meisten von ihnen kommen aus der ehemaligen Sowjetunion und waren dort professionelle Musiker. Der Zusammenbruch des sowjetischen Wirtschaftssystems und die darauffolgenden ersten Lebensjahre des kapitalistischen Russlands waren für die Wissenschaft und Kunst des Landes katastrophal. Geld für die Theater, Konzertsäle und Konservatorien war nicht mehr vorhanden. Die Zuschauer blieben aus. Selbst die weltweit bekannten Künstler in Moskau und St. Petersburg spielten in leeren Sälen. Die Situation fernab dieser zwei Hauptstädte des Landes war noch viel verheerender. Ganze Ensembles lösten sich auf. Ihre Mitglieder wechselten entweder den Beruf oder verließen das Land, um im Westen als Straßenmusikanten etwas Geld für ihre Familien zu verdienen.

So auch mein zweiter Gesprächspartner aus Woronesch (eine Stadt in der Nähe des Flusses Don, ca. 450 km südlich von Moskau), den ich etwas später am U-Bahnhof Potsdamer Platz treffe. Er ist 56 Jahre alt und spielt seit 12 Jahren in Deutschland auf der Straße. "Früher, in Woronesch, war ich Solist der Philharmonie und heute... bin ich Solist der U-Bahn" sagt er von sich selbst. In Russland leben seine Mutter, seine Frau und die Kinder, die er versucht zu unterstützen. Er arbeitet fast täglich nur ein-, maximal zweimal im Jahr fliegt er nach Hause, um die Familie zu besuchen. Das Spielen auf der Straße sieht er aber nicht als richtige Arbeit an. "Wissen Sie, ich sage nie: ich habe heute so- und soviel verdient. Ich sage immer: heute haben mir die Menschen so- und soviel gegeben." Er erzählt mir von seinem Leben in der Sowjetunion als er mit der Philharmonie von Woronesch durch das Land reiste und Konzerte gab. Man merkt die große Sehnsucht in seinen Worten und den tiefen Schmerz, wenn er vom heutigen Russland erzählt. "Meine Mutter bekommt 1000 Rubel Rente [ca. 30 Euro]. Genügend Kohle zum Heizen kostet 7000 Rubel [ca. 210 Euro]. Wie kann das sein, wenn es bei uns Milliardäre gibt?"

Ich schweige, da ich die Antwort nicht kenne. Dann greift er zum Akkordeon und stimmt das berühmte "Katjuscha" an. Eine Schulkasse geht an uns vorbei. Jemand wirft lachend ein paar Cents zu. Der Musiker ruft laut und mit starkem russischen Akzent: "Dankehschönn!" Ob ihm seine Zuhörer gefallen? "Ja. Die Leute kommen mit Freude auf mich zu, bedanken sich bei mir für die Musik, geben mir ein paar Münzen. Das ist sehr angenehm." Auch seine Kollegen lobt er. Konkurrenz gebe es unter den Straßenmusikanten kaum. Man arbeitet eher zusammen und spricht sich ab wer, wann und wo spielt. Aber auch das nur auf der Straße, denn für das Spielen auf U-Bahnhöfen müsse man sich ohnehin eine spezielle Genehmigung bei der BVG anfertigen lassen. Diese kostet 6,40 Euro und gilt nur für einen Bahnhof. Der Mann erzählt mir auch, dass es manchmal -sehr selten- in Berlin Konzerte eines Ensembles aus Straßenmusikanten gebe. Im Dezember 2004 gab es unter anderem ein gemeinsames Konzert von Musikern der Deutschen Oper mit Straßenmusikanten aus Berlin. "Underground Classics" hieß das Projekt und soll auch in Zukunft fortgeführt werden. Solche Konzerte seien dann ein guter Nebenverdienst. Trotzdem müsse er sehr sparsam sein, damit von seinen Ausgaben in Berlin und der monatlichen Miete etwas für die Verwandten in Russland übrigbleibt.

Ich wünsche dem Mann alles Gute und ziehe weiter auf die Suche nach anderen Musikanten. Sie spielen meistens auf den belebten Bahnhöfen der Stadt. Neben Friedrichstraße und Potsdamer Platz sind es Stadtmitte, Alexanderplatz und natürlich Kurfürstendamm. Mitten in Charlottengrad hoffen sie wahrscheinlich auf ihre neureichen russischen Landsleute, die beim KaDeWe ihre Pelzmantelkollektion erweitern. Tatsächlich werde ich fündig und treffe einen weiteren Akkordeonspieler, der eine traurige, sehr russisch klingende Melodie spielt.

Der Musikant ist etwas jünger als meine ersten Gesprächspartner, etwa Mitte 40. Er kommt aus der Ukraine und die Geschichte, die er mir erzählt, hat es wahrlich in sich.

Der Mann ist zweifellos auch einer derjenigen, die nicht zu den Gewinnern der chaotischen Perestroikajahre zählen. Er hat zwei Universitätsabschlüsse und beendete dazu noch eine Musikschule. Als der Staat kein Geld mehr für die Wissenschaft hatte, verließen viele seiner wissenschaftlichen Kollegen das Land. Diesen Weg zog er für sich selbst jedoch nicht in Betracht. Er wollte unbedingt in der Heimat bleiben und hielt sich in der Hoffnung auf bessere Zeiten irgendwie über Wasser. Dann kam das geschichtsträchtige Jahr 2004 mit den Präsidentschaftswahlen und dem Kandidaten Juschtschenko, der Demokratie, Wirtschaftsaufschwung und große Reformen versprach. Die besseren Zeiten schienen zum Greifen nah. Der heutige Straßenmusikant wurde Leiter des Wahlkampfstabes der Orangenen in der Janukowitsch-Region des Donbass. Das war jedoch ein risikoreiches Unterfangen. Er setzte seine gesamten Ersparnisse für den Wahlkampf ein und überlebte zwei Attentate auf sein Leben. Die Versprechen, die man ihm machte, rechtfertigten diesen bedingungslosen Einsatz. Mit dem Sieg Juschtschenkos kam allerdings die große Ernüchterung. Von ihm und seinen Mitstreitern wollte niemand mehr etwas wissen. Der erhoffte Wirtschaftsaufschwung blieb aus, die ersehnten Reformen gerieten ins Stocken. Er musste die Heimat verlassen und spielt jetzt mit seinen zwei Universitätsabschlüssen und der Erfahrung eines lebensgefährlichen Wahlkrieges Akkordeon in den U-Bahnschächten Berlins.

Das Spielen ist aber auch für ihn mehr als nur eine Geldquelle. "Ich spiele nicht so sehr um des Geldes Willen. Ich spiele und dann fühle ich mich gut. Die Leute lächeln mich an und meine ganzen depressiven Gedanken verschwinden. Ich bekomme gute Laune und kann über die Zukunft nachdenken". Seine deutschen Zuhörer gefallen ihm sehr. "Sie schämen sich nicht". Viele würden zu ihm kommen und einfach mit ihm über das Leben reden, Erfahrungen austauschen. Manche würden sogar weinen, wenn sie ihm zuhören. "Ich mag das deutsche Volk", sagt er und erzählt mir, dass er seiner vor 3 Monaten geborenen Tochter deswegen sogar einen deutschen Namen gegeben hat: Elisabeth. Er fühlt sich auch als ein Teil des kulturellen Lebens der Stadt. Doch seine Zukunft sieht er in seiner Heimat, in die er trotz allem unbedingt und so bald wie nur irgend möglich zurückkehren will.

All das erzählt er mir mit einem sympathischem Lächeln und vielen Gesten. Man fühlt, dass ihn sein Schicksal sehr mitgenommen hat. Aber gleichzeitig merkt man, dass es ihm seine Lebensfreude und seine Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht nehmen konnte.

Die Straßenmusikanten Berlins. Oft bemerken wir sie gar nicht in unserem hektischen Lauf zur Arbeit oder von der Arbeit nach Hause. Sie gehören aber zu dieser Stadt, sind ein unverzichtbarer Bestandteil von ihr. Spätestens dann, wenn wir uns nach einem verkorksten Tag lustlos durch die Straßen schleppen und plötzlich eine Melodie ertönt, die all unsere schlechte Laune einfach hinfort treibt, spätestens dann merken wir, wie wichtig sie für uns und diese Stadt sind. Wenn Sie demnächst einen Musikanten sehen, werfen Sie ihm ruhig ein paar Cents zu. Er wird sich freuen und Sie bekommen im Gegenzug Musik und ein echt russisches: "Dankeh!".

© Alle Photos von Anton Zykov

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