So auch mein zweiter Gesprächspartner aus Woronesch (eine Stadt
in der Nähe des Flusses Don, ca. 450 km südlich von Moskau),
den ich etwas später am U-Bahnhof Potsdamer Platz treffe. Er ist
56 Jahre alt und spielt seit 12 Jahren in Deutschland auf der Straße.
"Früher, in Woronesch, war ich Solist der Philharmonie und heute...
bin ich Solist der U-Bahn" sagt er von sich selbst. In Russland
leben seine Mutter, seine Frau und die Kinder, die er versucht zu
unterstützen. Er arbeitet fast täglich nur ein-, maximal zweimal
im Jahr fliegt er nach Hause, um die Familie zu besuchen. Das Spielen
auf der Straße sieht er aber nicht als richtige Arbeit an. "Wissen
Sie, ich sage nie: ich habe heute so- und soviel verdient. Ich sage
immer: heute haben mir die Menschen so- und soviel gegeben." Er
erzählt mir von seinem Leben in der Sowjetunion als er mit der Philharmonie
von Woronesch durch das Land reiste und Konzerte gab. Man merkt
die große Sehnsucht in seinen Worten und den tiefen Schmerz, wenn
er vom heutigen Russland erzählt. "Meine Mutter bekommt 1000 Rubel
Rente [ca. 30 Euro]. Genügend Kohle zum Heizen kostet 7000 Rubel
[ca. 210 Euro]. Wie kann das sein, wenn es bei uns Milliardäre gibt?"
Ich schweige, da ich die Antwort nicht kenne. Dann greift er zum
Akkordeon und stimmt das berühmte "Katjuscha" an. Eine Schulkasse
geht an uns vorbei. Jemand wirft lachend ein paar Cents zu. Der
Musiker ruft laut und mit starkem russischen Akzent: "Dankehschönn!"
Ob ihm seine Zuhörer gefallen? "Ja. Die Leute kommen mit Freude
auf mich zu, bedanken sich bei mir für die Musik, geben mir ein
paar Münzen. Das ist sehr angenehm." Auch seine Kollegen lobt er.
Konkurrenz gebe es unter den Straßenmusikanten kaum. Man arbeitet
eher zusammen und spricht sich ab wer, wann und wo spielt. Aber
auch das nur auf der Straße, denn für das Spielen auf U-Bahnhöfen
müsse man sich ohnehin eine spezielle Genehmigung bei der BVG anfertigen
lassen. Diese kostet 6,40 Euro und gilt nur für einen Bahnhof. Der
Mann erzählt mir auch, dass es manchmal -sehr selten- in Berlin
Konzerte eines Ensembles aus Straßenmusikanten gebe. Im Dezember
2004 gab es unter anderem ein gemeinsames Konzert von Musikern der
Deutschen Oper mit Straßenmusikanten aus Berlin. "Underground Classics"
hieß das Projekt und soll auch in Zukunft fortgeführt werden. Solche
Konzerte seien dann ein guter Nebenverdienst. Trotzdem müsse er
sehr sparsam sein, damit von seinen Ausgaben in Berlin und der monatlichen
Miete etwas für die Verwandten in Russland übrigbleibt.
Ich wünsche dem Mann alles Gute und ziehe weiter auf die Suche
nach anderen Musikanten. Sie spielen meistens auf den belebten Bahnhöfen
der Stadt. Neben Friedrichstraße und Potsdamer Platz sind es Stadtmitte,
Alexanderplatz und natürlich Kurfürstendamm. Mitten in Charlottengrad
hoffen sie wahrscheinlich auf ihre neureichen russischen Landsleute,
die beim KaDeWe ihre Pelzmantelkollektion erweitern. Tatsächlich
werde ich fündig und treffe einen weiteren Akkordeonspieler, der
eine traurige, sehr russisch klingende Melodie spielt.
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