PUTEVODITEL ("Der Reiseführer") - Ein kinokritischer Kommentar einer Kiew-Liebhaberin

Regie und Drehbuch: Aleksandr Shapiro
Produzent: Sergej Baranov
Kameramann: Pavel Oleksijenko
Darsteller: Aleksej Gorbunov, Vladimir Gorjanskij, Vitalij Linezkij, Georgij Drosd, Alla Sergijko, Jevgenija Gladij, Konstantin Schafarenko, Vladimir Jamnenko u.a.
Originalsound: Evgenij Kekuch
Produktion: Ukraine (Lazaretty Reproduction), 2004
Dauer: 108 Min.
Budget: 150.000 $
 
 
Am 23. Februar startet im deutschen Verleih ein ukrainischer Autorenfilm des Kiewer Regisseurs Aleksandr Shapiro „Putevoditel“ („Der Reiseführer“). Dieser Film machte bereits auf der Berlinale 2005 auf sich aufmerksam, wo er im Rahmen des Forums für Junges Kino aufgeführt wurde.
 
Hauptfigur des „Putevoditel“ ist die ukrainische Hauptstadt Kiew. Zumindest ist dies der erklärte Anspruch Shapiros, der eine Art Hommage an seine Heimatstadt kreieren wollte. Der Film setzt sich aus elf Novellen zusammen (nach dem Pulp Fiction- oder Coffee and Cigarettes –Prinzip), die fast in einer Doku-Manier gedreht sind, und sich hinsichtlich des Inhalts bzw. der Länge voneinander stark unterscheiden.
Die meisten dieser Episoden zeigen Szenen, in denen sich Kiewer, provinzielle Touristen und Ausländer über diverse Facetten der Stadt unterhalten: es geht um gute und schlechte Nachtklubs, um Wohnungspreise in den unterschiedlichsten Stadtteilen von Kiew, um besondere Sehenswürdigkeiten und einfach um das Leben in der ukrainischen Metropole.
   

Shapiro lässt seine Filmfiguren, die aus verschiedenen sozialen Schichten stammen -  vom „neuen Ukrainer“ mit seinem Mercedes, drogenabhängigen obdachlosen Jugendlichen, bis hin zu verwöhnten, durchgestylten und zugekoksten Tussis -  , über das Leben der Stadt erzählen, wobei er die Dialog-Szenen immer wieder mit flüchtigen historischen Bildern mixt.
 
Der Zuschauer erfährt, wo man am besten sein Geld ausgeben sollte, falls man zu viel davon hat, wo die hübschesten Mädels „rumhängen“, wie viel eine Taxifahrt zum Linken Ufer kostet und noch viel mehr. So gesehen enthält der Film, wie es sich für einen echten Reiseführer auch gehört, eine Menge nützlicher Informationen, obwohl zum Teil der Eindruck entsteht, als wären Kiewer alle ausnahmslos auf der Suche nach Wohnungen oder aber nach ultimativen After-Partys.
 
Was das angebliche Filmobjekt Kiew angeht, so sieht man leider kaum etwas von der Stadt. Es ist nämlich so, dass die besondere „Handschrift“ Shapiros aus einem wilden Mix aus statischen Dialogszenen und Dokumentar-Bildern ähnlich einem Musikvideo besteht. Die extrem kurzen Fragmente wechseln sich in einem Wahnsinnstempo ab, was dazu führt, dass ein unerfahrener Zuschauer leichte Übelkeit verspürt und sich nur mühsam auf die Wahrnehmung des Ganzen konzentrieren kann.
 
Wie ein roter Faden, der sich durch den Film zieht, taucht immer wieder eine Horde von Bikern auf, die scheinbar ziellos durch die Kiewer Chaussee düsen. Dieses Motiv erinnert unausweichlich an Federico Fellinis Roma, da es zweifellos aus diesem Meisterwerk übernommen wurde, fragt sich nur, wozu? Jedenfalls ist es eine sehr mutige (übermütige?) Geste seitens des ukrainischen Regisseurs, durch diese eindeutige Fellini-Szene eine Verbindung zwischen sich und dem Großen Meister anzudeuten...

In den wenigen Episoden, in denen nicht nur Personen, sondern auch Orte vorkommen, klebt die Kamera minutenlang mal an einem heruntergekommenen Stadion, mal an einem hässlichen Neubau fest, an Bildern also, die Kiew nicht gerade von seiner Schokoladenseite präsentieren, um es mal milde auszudrücken.
Selbstverständlich ist ein jeder Kinofilm und insbesondere ein Film über die eigene Heimatstadt eine streng subjektive Sache. Doch warum Shapiro ausgerechnet die hässlichen Züge seiner Stadt betont (indem er die schönen Ecken gar nicht zeigt!) und Menschen filmt, die bestenfalls merkwürdig und schlimmstenfalls kaputte Junkies sind, die einen Slang benutzen, von dem ein „normaler“ Kiewer wohl kaum etwas verstehen würde, ist nicht wirklich klar.
 
Die Reaktionen der Profi-Kinokritiker und Shapiro-Kenner sowie des gewöhnlichen Publikums könnten unterschiedlicher nicht ausfallen: Die Einen „zerreißen“ Shapiro und seinen „Reiseführer“ nicht nur auf der künstlerischen Ebene; sie regen sich auf, fühlen sich gar persönlich angegriffen, da sie den Film als eine Beleidigung der Stadt und ihrer Bewohner empfinden. Andere wiederum behaupten, in diesem Film einen gewissen Kultcharakter entdeckt zu haben, worin auch immer sich dieser äußern mag. Da „Kult“ heute ein weiter Begriff ist und daher in alles mögliche hineininterpretiert wird, ist es so gesehen kein Kunststück, etwas „Kultiges“ zu produzieren. Hauptsache, es ist schräg genug, um ein paar Hausfrauen zu verwirren.
Es ist definitiv eine Geschmacksache, ob man Shapiro nun mag oder nicht. Und über  Geschmäcker lässt sich bekanntlich nicht streiten. Fest steht aber auf jeden Fall, dass Aleksandr Shapiro ein Regisseur extraordinärer Natur ist, dessen Originalität bereits in seinen früheren Arbeiten „Der Koffer“, „Deckart“ und „Zikuta“ zum Vorschein kam, wobei der letztere Film so „originell“ wurde, dass das ukrainische Kulturministerium  den Verleih verbot


Auch dieses Jahr läuft im „Forum“ der Internationalen Filmfestspielen in Berlin ein Shapiro-Film: „Happy People“. „Es ist eine Geschichte von jungen, sehr wohlhabenden Freunden, die sich mit dem Problem der ´Unterhaltungskrise´ konfrontiert sehen“ – erzählt Aleksandr Shapiro – „nichts mehr in ihrem Leben kann ihnen Freude bereiten. Und so entscheiden sie sich, den Risikofaktor in ihrem Alltag zu erhöhen um ein paar Abenteuer zu erleben.“ Zu diesem Zweck denken sich die jungen Leute gegenseitig jede Woche eine Aufgabe aus, die auf jeden Fall erfüllt werden muss, egal wie absurd oder sinnlos sie zu sein scheint.
In einer der Hauptrollen ist der bekannte Moskauer Regisseur Fedor Bondartschuk zu sehen, dem vor kurzem durch seinen erfolgreichen Blockbuster über den Afghanistankrieg «Die neunte Einheit» ein Riesenerfolg gelang. Bondartschuk lobte Shapiro, der es geschafft hat „für so wenig Geld“ (das Budget beschränkte sich auf 500.000 $) ein so vollwertiges Produkt auf die Beine zu bringen. Die Bemerkung von Bondartschuk über „wenig Geld“ ist umso verständlicher, wenn man bedenkt, dass „Die neunte Einheit“ 25 Mio. $ gekostet hat. Doch was die „Vollwertigkeit des Produkts“ anbelangt, so sollten die Zuschauer am besten selbst darüber urteilen.
Nähere Informationen über die Filme von Aleksandr Shapiro und seine Kurzbiografie finden Sie auf www.arthousetraffic.com.
 
Übrigens: Shapiro spielt schon seit einigen Jahren mit dem Gedanken, einen Film über das sogenannten „death match“, das legendäre Fußballspiel, das während des Zweiten Weltkrieges zwischen der deutschen Besatzungsmannschaft und der lokalen Mannschaft „Start“ in Kiew stattfand. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass der nächste Shapiro-Film, diesem Thema gewidmet sein wird, zumal in „Putevoditel“ die folgenschwere Fußballpartie von 9.08.1942 ein paar Mal erwähnt wird.

Mariana Kuzmina

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