Der Russe - Ein Porträt
von Anton Zykov

„Mit dem Verstand ist Russland nicht zu begreifen“ Fjodor I. Tjutschew, russischer Dichter

Stellen Sie sich vor, Sie sind Künstler und bekommen im Zuge der immer noch aktuellen Russendisko- und Ostalgiewelle den Auftrag einen typischen Russen zu malen. Sie selbst waren natürlich nie in Russland und auch in Ihrer Verwandtschaft gibt es keine echten Babuschkas. Einer Ihrer Freunde prahlt seltsamerweise seit kurzer Zeit damit, dass er zu einem Achtel Russe ist. Aber das hilft Ihnen nicht sonderlich weiter, denn zum einen hat Ihr Freund noch nicht genau herausgefunden, welcher Teil an ihm nun russisch ist und zum anderen müssen Sie ja einen ganzen Russen malen und nicht nur ein Achtel von ihm. Zum Glück gibt es aber die Massenmedien und zahlreiche Hollywoodfilme, die Ihnen ein genaues Bild der russischen Verhältnisse liefern.

Sie setzen sich an Ihren Tisch vor ein absolut leeres, weißes Blatt Papier. Neben dem Blatt liegt griffbereit ein sorgfältig angespitzter Bleistift. Sie nehmen ihn zur Hand und fangen an zu malen.

Zuerst müssen Sie sich Gedanken über das Umfeld machen, in das Sie Ihren Russen platzieren wollen. Sie müssen also eine typisch russische Landschaft zeichnen. Das ist keine schwere Aufgabe, denn jeder weiß ja, wie so etwas auszusehen hat. In Russland ist es natürlich nie wärmer als -30° und es liegen ewig meterhohe Schneemassen auf den unendlich weiten Feldern.

Irgendwo in der Ecke kann eine schmächtige Birke aus dem Schnee herausblicken. Die Birke - das ist vielleicht weniger bekannt - ist der Nationalbaum Russlands und wird in Volksliedern und von Dichtern genauso gerne und oft besungen wie die Eiche in Deutschland. Natürlich dürfen in einer echten russischen Landschaft die sibirischen Bären nicht fehlen. Freilich laufen diese in Russland überall herum und die meisten, das haben Sie schon oft in Filmen gesehen, können sogar Einrad fahren und Balalaika spielen! Sie malen also, wie ein großer brauner Bär weit in der Ferne sich mit einem Einrad durch den Schnee bewegt und dazu Balalaika spielt. Hinter diesem läuft vielleicht noch ein anderer Bär hinterher, der zu den Klängen Kasatschok tanzt.

Sie freuen sich, dass Sie das russische Ambiente so gut getroffen haben und machen sich nun an den schwierigsten und eigentlichen Teil der Arbeit, die Zeichnung des Russen. Sie müssen versuchen, den Charakter dieser sonderbaren Menschen einzufangen. Das erste, was Ihnen in diesem Zusammenhang einfällt, ist natürlich der Wodka. Der Russe muss etwas angetrunken sein. Eine dicke, rötliche Nase und ein dümmliches Lächeln sollten reichen; vielleicht noch eine Wodkaflasche in der rechten Hand. Die Russen sind im Allgemeinen arme Leute, deswegen darf der Mann trotz der Kälte nur eine alte, löchrige Hose und ein dreckiges, ärmelloses, blau-weiß gestreiftes Shirt tragen, wie die russischen Matrosen in den James-Bond-Filmen. Zufrieden denken Sie, dass so eine Tracht auch die Brutalität der Russen ziemlich genau wiedergibt. Denn unzertrennlich sind für Sie die Begriffe Russland und Mafia. Um die Brutalität noch zu unterstreichen, malen Sie, wie aus der Hosentasche ein altes rostiges Messer herausguckt. Dann fällt Ihnen aber ein, dass neben Mafia auch noch der Kommunismus auf der einen Seite und Putin auf der anderen Seite charakteristisch für Russland sind. Dazu verzieren Sie die Oberarme Ihres Russen mit zwei Tätowierungen. Auf dem linken Oberarm findet sich ein Porträt von Lenin, der in seinen Händen Hammer und Sichel hält und von einem großen, roten Herzen eingerahmt wird. Auf dem rechten Oberarm posiert grimmig Putin in seinem Judokostüm mit schwarzem Gürtel. Auf dem Kopf des Russen liegt schief eine Polizeimütze als Symbol für die Korruption der russischen Staatsorgane. Dann müssen Sie dem Bild noch einen guten Titel geben, etwas russisches. Igor, Iwan und Boris sind jedoch die einzigen Namen, die Ihnen spontan einfallen.  Dabei passt „Wilder Iwan“ Ihrer Meinung nach am besten. Fertig!

Sie gehen zwei Schritte zurück und betrachten Ihr Meisterwerk, blättern noch einmal in den auflagenstärksten Zeitungen und stellen fest, dass alle darin enthaltenen Informationen in das Bild eingeflossen sind. Sie sind glücklich! Doch ein unerwartetes Klingeln an der Tür stört die sorgenfreie Verteilung von Glückshormonen in Ihrem Körper. Es ist ein alter Freund, den Sie in Ihrem Stress fast vergessen haben. Er kommt gerade von einer Russlandreise wieder. Sie freuen sich und zeigen ihm Ihr neuestes Werk, denn er kennt sich ja jetzt bestens mit Russen aus.

Ihr Freund steht lange vor dem Bild und schweigt. Erst jetzt bemerken Sie die Aufschrift auf seinem  T-Shirt: „I’ve been in Russia. There are no bears!” (Ich war in Russland. Da gibt es keine Bären!). Dann fängt er an zu lachen und zu erzählen.

Er erzählt Ihnen, dass er ein ähnliches Bild von Russen und von Russland hatte, als er seine Reise antrat. Seine ersten Tage in Russland änderten nicht viel an seiner Meinung, eher wurde sie gefestigt. Die Fassaden der Häuser waren dreckig, sehr alt und einsturzgefährdet. Den Menschen schien dieser Dreck nichts auszumachen, sie lebten mitten in ihm und versuchten erst gar nicht etwas zu ändern. Polizisten wurden auf offner Straße bestochen und Alkoholiker taumelten im Zickzack durch die Stadt. Im Fernsehen diktierte täglich der Präsident seinen Ministern etwas vor und diese schrieben fleißig mit. Anscheinend war alles tatsächlich so, wie man sich das vorstellte.

Eines Abends wurde er dann von einer Kollegin nach Hause eingeladen. Die Kollegin war Professorin und musste gleichzeitig drei verschiedene Jobs erledigen, um ein halbwegs vernünftiges Gehalt zu bekommen. An diesem Abend kamen auch andere Freunde. Der Tisch war randvoll gedeckt, was die Professorin wahrscheinlich ein ganzes Monatsgehalt gekostet hatte. Jeder Gast brachte dann auch noch etwas mit: Blumen, Pralinen, Torten. Der Tisch schien zusammenzubrechen. Ihrem Freund wurde der Teller mit immer neuen Sachen gefüllt. Alles für den Gast aus Deutschland hieß die Devise. Natürlich floss auch der Wodka.

Außer der Professorin konnte eigentlich niemand deutsch, trotzdem konnte man irgendwie jeden verstehen. Die Russen sprachen mit vielen Gesten. Sie sprachen mit den Händen, mit den Füßen, mit dem ganzen Körper und hörten erst dann auf, wenn sie sich sicher waren, dass ihr Gegenüber alles verstanden hatte. Einer der Gäste hatte eine Gitarre dabei, er spielte russische Lieder und alle sangen mit. Dabei war es nicht wichtig, ob man singen konnte oder nicht. Das Wichtigste war, dass „die Seele sang“, wie die Russen es nannten. Ein anderer Gast trug sogar ein deutsches Gedicht vor, das er in der Grundschule gelernt hatte. Mitten in dieser Feier fragte dann Ihr Freund, warum es Russland so schlecht ginge. Sofort brach Stille ein. Die Stimmung veränderte sich schlagartig. Ihr Freund erwischte einen wunden Punkt. Irgendeiner der Gäste versuchte etwas zu antworten, ein anderer nahm eine Wodkaflasche und goss jedem etwas ein. Wieder floss der Wodka. Aber er floss aus Schmerz und um den Schmerz zu lindern, wie er es so oft tut in Russland.

Seit diesem Abend beobachtete Ihr Freund das Geschehen um ihn herum mit anderen Augen. Er schaute genauer hin und seine anfängliche Meinung über das Land und die Menschen begann sich zu verändern. Er sah eine Schule, die mitten im Schuljahr geschlossen werden sollte. Die meisten Kinder konnten zu diesem Zeitpunkt die Schule nicht mehr wechseln. Besonders die Abschlussklassen traf dieses Schicksal hart. Die Lehrer beschlossen jedoch einheitlich, das Schuljahr trotzdem zu beenden und arbeiteten ein halbes Jahr lang ohne Gehalt; für sie war das selbstverständlich.

Ihr Freund begann zu verstehen, dass der von Ihnen gemalte Russe tatsächlich existiert, dass auch die Klischees alle stimmten. Selbst die über die Bären (schließlich ziert ein Bär sogar das Logo der regierenden Partei). Aber Ihr Freund begann auch zu verstehen, dass diese Klischees nur die Oberfläche wiedergaben. Die Armut der breiten Bevölkerung resultiert auch und vielleicht vor allem aus dem Charakter der Menschen, die zu vieles erdulden, vieles verzeihen und oft zu bescheiden sind um etwas zu fordern. Diejenigen, die das ausnutzen konnten - oft mit brutalen und kriminellen Mitteln - leben heutzutage reich und gut. Das Land begann sich zu verändern. Diese Veränderungen im Land warfen ihre Schatten auch auf den Charakter der Menschen, sodass sich diese vor allem in den Großstädten massenweise Ihrem Bild, dem „Wilden Iwan“, anzupassen begannen. Trotzdem war dieser Umbruch nicht in der Lage den russischen Charakter völlig zu verändern und die Bescheidenheit, die Gastfreundlichkeit, die Duldsamkeit, die energische Emotionalität, die lyrische Melancholie des russischen Charakters und das in ihm tief verankerte Gefühl des Mitleids auszulöschen.

Nach dieser Geschichte, verabschiedet sich Ihr Freund von Ihnen. Sie bleiben einen Augenblick lang beeindruckt sitzen.  Dann nehmen Sie einen Bleistift in die Hand und fangen an Ihr Bild vom „Wilden Iwan“ zu verändern…   

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