Gespräch mit dem Architekten Sergei Tchoban
Ildar: Ich denke, dass Du einer der erfolgreichsten russischen Architekten
bist, die sich im Westen etabliert haben. Genauer gesagt, kenne ich keinen
anderen russischen Architekten, der eine solche Stellung erreicht hat
wie Du. Vielleicht kannst Du selbst jemanden nennen?
Sergei: Das fällt mir auch schwer. Obwohl es in Amerika und Frankreich
Architekten russischer Abstammung gibt - aus den früheren Emigrationswellen
- , die verantwortungsvolle Positionen in großen Architekturbüros
einnehmen... Ich habe von ihnen gehört, kann aber keine konkreten
Namen nennen.
I: In Deiner Person ist die Erfahrung eines westlichen und russischen
Architekten vereint - immerhin kennst Du die russische Architektur nicht
nur vom Hörensagen, sondern bist aus ihr hervorgegangen, und mit
der westlichen lebst und arbeitest Du. Da stellt sich die Frage, wie diese
doppelte Erfahrung und dieses Wissen Dir in deiner Arbeit helfen, und
wie andere das bewerten?
S: Die Erfahrung eines Architekten ist ein ambivalenter Begriff: zu viel
Erfahrung kann manchmal auch schlecht sein, besonders beim Treffen frischer
Entscheidungen. Einerseits hat mir der Westen das Verständnis für
das Niveau der zeitgenössischen europäischen Architektur ermöglicht;
das ist die Realität, in der ich lebe. Andererseits ist das Erfassen
des Planungsprozesses - seiner Mechanismen, seiner Organisationsstruktur
- unerlässlich für den Bau von Gebäuden. Und diese Erfahrung,
dieses Wissen ist sehr wichtig, denn die Architektur braucht wie keine
andere Form der Kunst eine klare Ausrichtung auf das Endziel.
I: Welche Deiner Bauten im Westen hältst Du für interessant?
S: Man kann sagen, dass ich mich bis zum Jahre 2000 in einem Prozess der
Entwicklung und des intensiven Studiums befand (obwohl sich dieser Prozess
wahrscheinlich ein ganzes Leben lang fortsetzt). Möglicherweise kann
ich aus dieser Zeitperiode nur zwei Bauten nennen, die mir wichtig sind:
den Java Turm in Hamburg und die Fassaden und Innenausstattung der Hamburger
Parfümfirma "Fragrance Resources". Diese beiden Arbeiten sind mir
wichtig, obwohl sie nicht mehr meiner heutigen Auffassung von Architektur
entsprechen. Berlin hat mich zu den Petersburger Ursprüngen zurückgebracht,
und in diesen Arbeiten gibt es ein modisches Element, dem ich heute aus
dem Weg gehen würde.
Seit dem Jahr 2001 laufen bereits Projekte, die in Berlin realisiert wurden.
Das Kino "Cubix" am Alexanderplatz, das Alfred Döblin Haus, die Galerie
Arndt, die Lofts des "Kronprinzenkarrees" in der Reinhardtstraße
sowie das Domaquaree in der Nähe des Berliner Doms, das Gebäude
in der Tauentzienstraße 18... das sind Objekte, die ich realisiert
habe, als ich bereits über ein umfassendes Verständnis über
den Projektierungsprozess verfügte. Ich kann sagen, dass jedes von
ihnen so wurde, wie ich das gewollt habe... na ja, sagen wir, zu 90 Prozent.
Es ist klar, dass die Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber
diesen Projekten sehr unterschiedlich ist. Viele fühlen sich eher
zu unkonventionellen Sachen hingezogen - in dem Sinne, dass sie auffällige
Farben und Formen mögen. Extravagante Gebäude werden heute als
gelungener wahrgenommen als vergleichsweise ruhigere, klassischere Bauten.
Aber das ändert nichts an meiner Beziehung zu den Projekten, die
ich nannte. Ich habe in jedes von ihnen meine Seele gelegt und möchte
sie nicht in geliebte und ungeliebte einteilen.
I: Wie stellst Du Dir zeitgenössische Architektur vor, und welche
Tendenzen sind heute für sie charakteristisch?
S: Als zeitgenössisch kann man die Architektur bezeichnen, die mit
den 60er, 70er Jahren begann. Wenn man über ihre grundlegende Tendenz
spricht, ist das im Grunde genommen der Kampf der Masse und des Individuums.
Während früher, in den vergangenen Epochen, die Architektur
als ein Teil der Umgebung wahrgenommen wurde, so wird heute unter einem
gelungenen Architekturobjekt verstanden, dass es kontrastiert die gegenüberstehende
Umwelt reflektiert. Mir als einem Menschen, der durch St. Petersburg geprägt
wurde, ist diese Tendenz fern. Mir scheint, dass die Architektur heute
das verloren hat, was sie früher in der Betrachtung interessant machte
- die Verzierungen, die bewusste Gliederung.
Der Streben nach einer Skulpturität ist in Bezug auf
die Umwelt, die uns umgibt, egoistisch - das Streben nach Popularität,
nach einem wilden, freien Schaffen von Formen, wird fast immer als neu
und interessant anerkannt. Aber Architektur ist nicht Bildhauerei. Für
mich ist Architektur vor allem das, was im Raum entsteht, der geometrische
Anfang - nicht die Wiederholung irgendeiner Landschaft in freier Form,
sondern die Suche nach künstlichen, regulierenden Formen. Wahrscheinlich
kommt das daher, dass ich mich in St. Petersburg entwickelt habe. Seine
Umgebung besteht aus Räumen, die von Gebäuden definiert werden.
Ich glaube nicht, dass in einer Liste der 200 bedeutendsten Architekturdenkmäler
auch nur ein Gebäude aus St. Petersburg vorkäme. Aber wenn man
die drei bedeutendsten Städte Europas bestimmt, gehört St. Petersburg
zu dieser Liste bestimmt hinzu. Und genau das definiert mein Verständnis
von Architektur.
Leider kann man jene Zeit nicht mehr zurückbringen, in welcher der
Mensch in seiner Ruhe noch bedeutend mehr erfahren und verstehen konnte,
in der er weitaus weniger tat, aber weitaus mehr Zeit in weniger investierte,
und im Ergebnis mehr schaffte. Das gibt es also nicht mehr, aber trotzdem
ist ein Mittel geblieben, das die Menschen genauso wie früher erstaunen
kann. Dieses Mittel ist der Raum - , seine Proportionen, seine Erhabenheit...
und auch das Material. Das Material, das allein durch seine sinnliche
Oberfläche und seine Struktur besticht, und das schon allein dadurch
zum Dekor wird.
Die Arbeit mit dem architektonischen Raum und Material, bis auf ein bestimmtes
Niveau ausgeführt, ist eine ernstzunehmende und gesunde Alternative
zu allen Versuchen, aus der Architektur irgendeine Installation im Raum
zu machen. Und das ist der Weg, den ich gehe.
I: In der zeitgenössischen Architektur gibt es eine aktuelle Tendenz,
die Vorstellungen von der Zukunft in die Gegenwart miteinbezieht. Und
in dieser Zukunft ist die Natur schon nicht mehr als Lebensraum geeignet
oder sieht überhaupt nicht mehr so aus, wie wir es gewohnt sind.
In den Projekten, die auf dieser Idee basieren, dringt die Natur in den
architektonischen Komplex ein, ist gleichzeitig aber von der Außenwelt
getrennt - wie im Botanischen Garten. Was hältst Du von solchen Tendenzen
in der Architektur?
S: Ich kann ehrlich sagen, dass ich in dieser Frage eine traditionelle
Einstellung habe. Ich bin absolut überzeugt davon, dass der Mensch,
wie auch die Umwelt, in der er wohnt, sich bedeutend langsamer verändern.
Ansonsten wäre es schwierig für uns, die Kultur vergangener
Epochen zu begreifen, wir könnten sie auf der Gefühlsebene nicht
nachvollziehen. Wenn du dich schnell veränderst, entsteht eine gigantische
Distanz in der Einstellung zu dem, was vor dir da war. Und du hörst
auf, alles wie irgendeine alte Schrift wahrzunehmen - du könntest
sie einfach nicht mehr lesen. Der Mensch hat sich gar nicht so entscheidend
verändert: er kann Bücher lesen, die viele Jahrhunderte zuvor
geschrieben wurden, und sie auf der intellektuellen und auf der Gefühlsebene
begreifen. Heute vollziehen sich Veränderungen viel schneller als
vor 400 Jahren, aber das verändert den Menschen in seinem Wesen nicht
- wenn er nicht jedem letztem Schrei der Mode hinterher jagt, sondern
mit einem Minimum an Distanz auf das Leben blickt. Natürlich darf
man die negativen Folgen des technischen Fortschritts nicht ignorieren,
aber den pessimistischen Blick auf die Zukunft in die Gegenwart zu übertragen,
ist auch kein Ausweg.
Meinen eigenen göttlichen Auftrag zu erfüllen oder
eine Art künstliche Umgebung zu schaffen, war nie mein Ziel. Für
mich sind Landschaft und Stadt zwei sich gegenüberstehende Dinge.
Die Stadt dringt mit ihrer Künstlichkeit und Geometrie in die Landschaft
ein. So war es immer und so wird es auch weiterhin sein. Die ökologischen
Folgen dieser Entwicklung werden immer gravierender, der Prozess ist einseitig.
Dem muss man heute aktiver entgegen wirken als früher.
Die ökologische Kompatibilität der Architektur ist eine sehr
wichtige Aufgabe, aber ich habe nicht den Eindruck, dass heute gänzliche
andere Architekturformen nötig sind als vor 100 Jahren. Natürlich
darf man ein und dieselbe Gliederung nicht 500 Mal auf eine neue Art wiederholen;
irgendwann überleben sich auch sehr schöne Dinge. Musikinstrumente,
die Jahrhunderte lang existierten, sterben aus. An ihren Platz treten
neue Instrumente, aber die Melodie geben sie auf genau dieselbe Weise
weiter wie früher. Das Prinzip von Gebäuden hat sich nicht verändert,
genauso wenig wie die Wechselbeziehung der Gebäude mit der Umwelt
- ich sehe noch nicht einmal im Vergleich mit der Akropolis in Athen irgendwelche
Veränderungen.
Darüber zu sprechen, dass wir jetzt Gebäude mit variablen Fassaden
und mit der Möglichkeit, sie an die Umwelt anzupassen, bauen können,
das sind meiner Meinung nach kurzsichtige Utopien, die uns in der Entwicklung
zurückwerfen. Unaufhaltsame Erneuerung führt auf ihrem Höhepunkt
zu Enttäuschung und damit zur Rückkehr in die weit zurückliegende
Vergangenheit. Ja, die Sprache der Architektur hat sich verändert,
genauso wie die Stellung des Menschen in ihr. Aber eine auf interessantem
Wege entdeckte kleinere Veränderung ist für mich wertvoller
als die Veränderung des gesamten Äußeren eines Gebäudes
und seiner Umgebung.
I: Wenden wir uns Moskau zu. Gerade wird in Moskau viel gebaut. Nicht
nur von russischen, sondern auch gerade von berühmten westlichen
Architekten. Welche Tendenzen siehst Du in der Moskauer Architektur? Die
Architektur ist schließlich eine komplizierte Sache und hängt
von vielen Faktoren ab: der Mentalität der Gesellschaft und deren
feststehendem Geschmack, von Macht, Geld oder vom Künstler selbst.
Und wie Du schon sagtest, verändert sich der Mensch langsam, die
politischen und ökonomischen Veränderungen in unserem Land vollzogen
sich dagegen schnell. Wie nimmst Du die Moskauer Architektur wahr?
S: Moskau mangelt es in auffälliger Weise an einem urbanistischen
Architekturkodex. Es gibt verschiedene Bereiche der Bebauung, die historisch
absolut unterschiedlich auf die Umwelt reagieren. In Moskau gibt es viele
Beispiele für ein Nebeneinander von zweistöckigen Gebäuden
mit Wolkenkratzern. Moskau arbeitete weniger mit Raum, mehr mit Objekten,
wie zum Beispiel den Stalin-Hochhäusern oder einigen konstruktivistischen
Gebäuden. Als das neue Jahrhundert anbrach und ein riesiges finanzielles
Potential da war, hatte man keine Zeit für die Suche nach einem Neuanfang
in urbanistischen - und Stilfragen.
Das, was sich gerade in Moskau abspielt, führt im Grunde genommen
die Tendenz fort, die ich bereits benannt habe. Die Tendenz einer Objektentscheidung
nach dem Standort, die Ausführung einer konkreten Aufgabe. Eine Architekturverordnung,
welche besagt, dass in diesem Stadtteil die Höhe von Gebäuden,
sagen wir, 28 Meter nicht überschreiten darf, in jenem 40 Meter
- solch eine Verordnung gibt es nicht. Es gibt keine Tendenz, sich dem
Vergangenen zuzuwenden, wie zum Beispiel in St. Petersburg. Aber genauso
wenig die Tendenz, die Geschichte einer homogenen Umwelt auf neue Art
und Weise weiter zu schreiben.
Somit ist es schwer zu sagen, was genau der Moskauer Stil ist und was
ihn auszeichnet. Moskau ist vielfältig. Vielleicht ist die Ablehnung
der puristischen Architektur der 70er, 80er Jahre Teil dieses Stils. Der
Kunde, jedenfalls der russische, will immer, dass das Äußere
eines Gebäudes adäquat die eingebauten Mittel betont, dass das
Gebäude "teuer" aussieht. Der europäische Kunde ist da anders.
Zum Beispiel machte mir ein Kunde das Kompliment: "Sie haben so viel Geld
in diesem Gebäude verbaut, aber das ist absolut nicht zu sehen."
Ein gewisses Understatement, das aus Jahren des Reichtums resultiert,
gibt es in Moskau nicht und kann es auch nicht geben. Die Geschichte ist
einfach zu jung, die Leute geben Geld für ein Gebäude aus und
wollen dann auch sehen, wie dieses Geld im Stil und in den Materialien
lebt und arbeitet - und das ist völlig normal,
daran ist nichts Anstößiges. Am Anfang drückte sich das
in der Hinwendung zum einem Jugendstil im weitesten Sinne oder zur
Art Deco aus, in der es schmackhafte Details gibt.
Natürlich entwickelt sich Moskau, Moskauer Architekten reisen um
die ganze Welt und haben die Möglichkeit, sich auszutauschen, sich
Architekturbeispiele weltweit anzusehen. Die Russen sind talentiert und
reagieren schnell auf schwierige Veränderungen, sie haben den Wunsch,
in die Weltarchitektur mit einzusteigen. In Moskau tauchen heute neue
Gebäude auf, die aussehen, als ob sie aus Modezeitschriften herausgerissen
seien. Was soll ich dazu sagen
Wenn sich Architektur in einem Umkreis
von zwei Kilometern gut macht, aber aus 100 Metern Entfernung wie eine
Hutschachtel aussieht, ist das für mich schlechte Architektur.
I: In einem Deiner Aufsätze hast Du gesagt, dass der russischen Baukunst
eine geordnete Grundlage fehle. Was kannst Du jetzt zu diesem Thema sagen?
S: Es sollte nicht nur der Bauarbeiter Vorschläge machen, sondern
der Architekt sollte wissen, was er will. Wenn ich zu einem Bauarbeiter
komme und sage: "Wissen Sie, ich hätte hier gern etwas Glas, und
darum herum irgendeinen Rahmen, aber ich weiß nicht, was da möglich
ist, - schlagen Sie mir doch mal was vor", dann habe ich schon verloren,
bevor ich überhaupt angefangen habe, zu spielen. Das heißt,
meine eigene Erfahrung, meine Organisiertheit müssen mir mitteilen,
was ich hinterfragen muss. So formt der Architekt mit seinem Wissen die
Bautechnik.
I: Willst Du damit sagen, dass die russische Baukunst bereits eine Annäherung
an weltweite Standards vollzogen hat?
S: Ja. Auf dem Moskauer und St. Petersburger Markt gibt es schon so gut
wie alles. Dabei ist der Preis für die Arbeitskraft dort, genau wie
früher schon, niedriger als in Deutschland. Aber die Vorstellung
des Auftraggebers über den Baupreis ist eben auch niedriger. Der
Architekt und der Baumeister müssen dort, genau wie auch hier, eine
vollständige Einheit bilden, in welcher der Architekt eine ganz konkrete
Vorstellung haben und auch gut erklären können muss, was er
braucht. Wenn sich herausstellt, dass eine russische Baufirma unter Verwendung
ausländischer Baumaterialien das gesteckte Ziel nicht genau erfüllen
kann, kann man immer noch eine ausländische Firma um Hilfe bitten,
sie auf dem russischen Markt akkreditieren, und das, was geplant war,
Schritt für Schritt verwirklichen.
Eine andere Sache ist, (und das ist der Fehler vieler Architekten, die
eifrig in Zeitschriften blättern und dabei vergessen, wo sie wohnen),
dass in Russland vieles, was in Westeuropa realisiert wird, wegen der
klimatischen Bedingungen einfach nicht möglich ist. Zum Beispiel
große offene Terrassen, Balkone, flache Dächer, porös
geschichtete Steine, offene Fugen, hängende Fassaden ohne Begrenzungen.
In Russland darf man diese europäischen Beispiele nicht wiederholen,
ohne die Spezifik des Klimas in Betracht zu ziehen - wie den häufigen
Wechsel zwischen Frost und Tauwetter zum Beispiel. Das heißt, viele
Dinge muss man neu erarbeiten und sie an die russischen Bedingungen anpassen.
Ich sehe, dass der billigen Arbeitskraft wegen in Russland all das möglich
gemacht werden kann, was im Westen völlig unmöglich ist: Werksteinfassaden,
eine Vereinfachung des Metallprofils und so weiter. Alles, was mit teuren
menschlichen Ressourcen verbunden ist, lässt in Russland unerwartet
interessante Ergebnisse entstehen. Und das Niveau der Detailverarbeitung
in der Innenausstattung hat das Niveau Westeuropas schon um ein Vielfaches
überholt.
I: Heißt das, es gibt interessante Objekte, die in Russland gebaut
wurden?
S: Es gibt viele Objekte, die von innen gelungen sind, aber nur wenige,
die von außen ebenso gelungen erscheinen. Aber es gibt sie.
I: Sehr oft sieht man bei Neubauten, dass es ihnen an Kultur fehlt. Man
sieht, dass sie teuer gebaut wurden, dass viel Geld ausgegeben wurde,
aber es ist offensichtlich, dass es umsonst ausgegeben wurde.
S: Es gibt keine Detailkultur, und man hat nicht den Eindruck, dass über
diese Details von Anfang an nachgedacht wurde. Und genau das ist meine
Herangehensweise: Ich entwerfe während des Projektierungsprozesses
eine Fassade im Maßstab 1:100 und mache gleich ein vorläufiges
Angebot. Ich weiß, wieviel eine solche Fassade, wie ich sie mir
vorstelle, kosten wird. Ich entwerfe drei Alternativen und baue ein Modell
im Maßstab 1:10, in dem schon Stein verbaut ist. Auf dieser Grundlage
soll der Kunde entscheiden, was er möchte. Schließlich kann
Architektur nicht abstrakt, ohne Material existieren. Man kann kein Gebäude
entwerfen und danach entscheiden, welches Material verwendet werden soll.
I: Wenn man nach Russland fährt und in den Vororten die große
Anzahl neuer Bauten, neuer Villen sieht - in sehr dichter Bebauung
und mit hohen Umzäunungen, dann scheint es, dass sie alle bald ihren
Wert verlieren werden. In meinen Augen haben sie das schon. Ein Haus zu
besitzen, ist doch noch nicht alles, ist denn der Blick aus dem Fenster
nicht genauso wichtig? Wenn zehn Jahre vergangen sind, wird niemand das
alles mehr brauchen. Was meinst Du dazu?
S: Früher wurde wenig, heute wird viel gebaut - und das in der ganzen
Welt. Innerhalb der nächsten zwanzig Jahre wird vieles von dem, was
heute gebaut wird, bestimmt nicht mehr da sein. Das ist das Schicksal
der zeitgenössischen Architektur. Ein Gebäude zu bauen, das
mit seinen Charakteristika von Raum und Funktionalität die Chance
hat, die Altersgrenze von 30-40 Jahren zu überstehen, wäre schon
ein Sieg. Diese Tendenz kann man überall beobachten. Als Beispiel
kann man an Las Vegas erinnern, wo die Hotels alle 20 Jahre neu gebaut
werden. Das alles ist eine für Laien teuer wirkende Attrappe, die
zu einer häufigen Erneuerung verurteilt ist. Aber das gleiche Schicksal
trägt auch die Westberliner Architektur - die Ikonen der 50er bis
70er Jahre, die einmal als Meisterwerke angesehen wurden, werden heute
abgerissen.
I: Blicken wir in die Zukunft. Welche Züge charakterisieren die Architektur
der Zukunft?
S: Offen gesagt, stelle ich mir die Zukunft nicht als etwas vor, was sich
im Wesentlichen vom heutigen Tag unterscheidet.
I: Wie bewertest Du die Architektur Russlands, Europas und der Welt? Welche
Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede siehst Du?
S: Weißt du, ich sehe das globaler. Die heutige Architektur wird
von zwei Tendenzen geprägt. In der intellektuellen Gesellschaft gibt
es eine gewisse Angst. Der Angst vor dem Kitsch. Vor der Rückkehr
zu den Traditionen, die auf einem mehr oder weniger kitschigen Niveau
beruhen. Ich war noch vor einigen Tagen in Las Vegas. Die höchste
Form von Kitsch gibt es genau dort - in Amerika, in Las Vegas, weil es
dort keinen jahrhundertealten kulturellen Background gibt. Also kann man
so etwas dort leichter machen. Die Intellektuellen befürchten diesen
Trend in der Architektur und haben eine geschlossene Front gebildet -
eine Gesellschaft für sich.
Ich gehöre dieser Front an, zumindest hoffe ich das. Die moderne
Architektur arbeitet mit einer Form, mit einem Materialornament, mit Raum,
aber gleichzeitig nicht mit "Tradition" im wörtlichen Sinne. Offen
gesagt, ist das aber eine weltweite Tendenz. Die gibt es überall.
Das heißt, dass das Hotel "Mandala-Bay", ausgearbeitet mit einer
unglaublichen malaysischen Ornamentik, neben Restaurants New Yorker Designer
stehen kann, die in ihrer Modernität, der Schönheit ihrer Reduktion,
der Details und des Raumes im starken Kontrast zu allem stehen, was sie
umgibt. Dieser Kampf ist in Amerika stärker zu sehen als in Europa.
Aber auch hier kommt er vor. Wie viele Diskussionen hat das Hotel "Adlon"
in Berlin hervorgerufen... In Moskau wird das Haus "Patriarch" errichtet
[ein Luxusapartmentgebäude im Stadtzentrum, Anm. d. Übers.]
und in seiner unmittelbaren Nähe steht ein Gebäude, das das
Ornament total verneint und Detail, Material und Form propagandiert.
Die Gegner der modernen Architektur haben stets gewichtige
Argumente: "Was ist schlecht an der Rückkehr zur Tradition, immerhin
ist sie durch die Zeit geprüft worden." Oder: "Warum hatten die Architekten
der Renaissance das Recht, antike Beispiele zu wiederholen, und wir dürfen
das nicht?" Darauf kann man ihnen vernünftigerweise nur erwidern,
dass eine unendliche Wiederholung des historischen Kanons zu dessen Abwertung
führt. Diese beiden Tendenzen stehen sich überall gegenüber.
I: Ist die Architektur international geworden?
S: Ein alternativer Internationalismus der Architektur ist der Regionalismus,
der aber leider oft in Kitsch übergeht. Regionalismus kann
gelungen sein, wenn sich allgemeine und weltliche Tendenzen adaptieren
lassen - in der Verwendung regionaler Materialien, die den für das
betreffende Land traditionellen Herangehensweisen von Form und Raum entsprechen.
Mir scheint, dass weder eine radikale Erneuerung noch ein übersteigerter
Traditionalismus Antworten auf diese Frage geben können. Das eine
hat ebenso wie das andere seine Nachteile. Die "Modernisten" nehmen oft
keine Rücksicht auf die Spezifik eines Standortes. Für Moskau
oder St. Petersburg entworfene Projekte von Rem Koolhaas könnten
genauso auch in Holland oder Deutschland stehen.
Sie würden überall genauso flott und fremd aussehen. Und wie
zum Beispiel Herr Schulz vom "Tagesspiegel" bemerkte, ist der "Patriarch"
für Moskau in seiner Erscheinung eben deshalb viel interessanter,
weil er in enger Verbindung mit den örtlichen kulturellen Traditionen
steht und so im Kontext wahrgenommen wird. Auf der einen Seite ist er
als eine typische Moskauer Erscheinung interessant, auf der anderen Seite
gibt es hier eine große Anzahl von Stilfragen, die im Fall einer
qualitativ hochwertigen modernen Architektur nicht aufkämen.
I: Ich hoffe, dass unsere Leser diese Diskussion weiterführen. Und
Dir Dank für dieses unschätzbare Wissen.
S: Danke.
|
Projekte, Sergei Tchoban ......>>> www.nps-tchoban-voss.de
Interview von Ildar Nazyrov, Berlin, 25.8.2004
Übersetzung aus dem Russischen von Anna Brixa
© www.007-berlin.de
|
Archiv:
36.
Yvonne Büdenhölzer, Leiterin des Theatertreffens, über das bedeutendste
Theaterfestival in Deutschland
35.
Gereon Sievernich: Das Kunstwerk entsteht erst im Auge des Betrachters
34.
Thomas Oberender: Die Gesellschaft kann und muss lernen sich zu streiten
33.
Sommer in russischer Provinz / Olga Schtyrkina
32.
Ein Semester in St. Petersburg / Claudia Jutte
31.
Herr Ober, das Salz bitte! / Rezension von Philipp Goll
30.
einshochzwei ist dreihochsternchen / wibx
29.
Ein Semester in St. Petersburg von Claudia Jutte
28.
Berlinskij Episod. Eine Hommage an Berlin, gut gekleidetet deutsche Männer
und: das Lachen. Von Philipp Goll
27.
Merle Hilbk "Sibirski Punk" : Ein Sommerblues von Anna Brixa
26.
ein einblick. ein ausblick. geblickte momente/Mode in St. Petersburg / wibx
25.
wiederkehr. neue einkehr/ eine reise nach sankt petersburg / wibx
24.
Über den heroischen Slam ein paar Worte...Kritik einer Zuschauerin. Von Natalja
Fedorowa (auf russisch)
23.
Lena Kvadrat / artpoint / wibx
22.
Sonne für die Ohren - Rezension zum Album "Na svjazi" von Markscheider Kunst
von Anton Zykov
21.
Der Russe - Ein Porträt von Anton Zykov.
20.
Töne des Untergrunds - Russische Straßenmusikanten in Berlin von
Anton Zykov.
19.
Banja, Wobla und Weniki oder eine Gebrauchsanweisung zur russischen Sauna von
Mariana Kuzmina.
18.
Der deutsche Gentleman ein Mythos oder: können russische Frauen und deutsche
Männer zueinander finden?, von Julia Harke
17.
Literaturkritik von Twerdislaw Zarubin
(auf russisch)
16.
"Grüne Woche" (2006) von Mariana Kuzmina
(auf russisch)
15.
Kann ich dir helfen, Bruder? Gedanken zur russischen Brüderlichkeit von
Julia Harke
14.1.
Das Russen ABC für Berliner
14.
Briefe aus Nizhnij Novgorod von Daniela Ließ
13.
Wen der Osten schön macht oder warum russische Frauen besser aussehen von
Julia Harke
12.
Gespräch mit dem Regisseur Egor Konchalowsky von Anja Wilhelmi
(auf russisch)
11.
Archive Agent-007
(auf russisch)
10.
Kunstherbst 2005 (auf russisch)
09.
Leben im Wohnheim Multi-Kulti. Ein Erfahrungsbericht aus Frankfurt/Oder von
Claudia Jutte
08.
Offener "Russischer Slam" in Berlin! (auf russisch)
07.
Licht und Farbe in der Russischen Avantgarde (auf russisch)
06.
Art Forum 2004 (auf russisch)
05.
Die Russischen Filme auf der Berlinale 2005 von Matthias Müller-Lentrodt
04.
Gespräch mit dem Architekten Sergei Tchoban (auf deutsch) (auf
russisch)
03.
Gespräch mit dem Fotografen Boris Michajlov
02.
Eine Art Reisetagebuch von Sophie Hofmann
01.
Mit der Schauspielerin Irina Potapenko sprach Tim-Lorenz Wurr.
|