Boris Michajlov Michailov |
Gespäch mit Boris Michajlov Ildar: Hast du angenehme Erinnerungen an deine Kindheit? Oder woran erinnerst du dich besonders, und denkst du gern daran zurück? Boris: Das lässt sich schwer sofort sagen. Was sind angenehme Erinnerungen? Alle positiven Kindheitserinnerungen hängen mit Frauen zusammen. Vor allem in der Jugend und davor mit Basketball und mit anderen Spielen. Mit Eltern. Zeitvertreib mit Freunden. Freundschaften. Char'kov. Frühling. Ich lief mit einem Freund auf der Straße. Ähnlich war auch vieles andere, aber das blieb mir im Gedächtnis. Wir gingen einfach spazieren, das war alles. I: Und wo ist dein Freund jetzt? B: Er ist schon vor langer Zeit umgekommen. Einmal rettete er mich. Noch im Vorschulalter, als wir Kinder waren. Du fragtest mich, was für mich angenehm war in meiner Kindheit. Nun, wie ich schon sagte, ich würde unsere Freundschaft als herzlich bezeichnen. Ich habe auch Erinnerungen an das Schöne, im ästhetischen Sinne. Zum Beispiel an die große Sonne. Das war, als wir zu Kriegszeiten evakuiert wurden, "da war eine gewaltige Sonne" oder Speiseseis in Moskau oder französisches Weißbrot, das wir in Moskau auf unserem Weg in die Evakuierung aßen. I: Wohin wurdet ihr evakuiert und für wie lange? Wie alt warst du damals? B: In den Ural. Ich war damals drei. Ich erinnere mich nicht mehr. Ich
weiß nur noch, dass ich an der Nase gezogen wurde und man mich fragte:
Bist du Jude oder Moskauer? Und jetzt sag "kukurusa"! Es gab
Kinderstreiche, die ohne Folgen blieben. Der Krieg blieb mir nicht im
Gedächtnis. Ich erinnere mich nur noch daran, dass mich mein Vater
auf einen Panzer setzte. Aber das nur am Rande. Ich erinnere mich an meine
Geburt, als ich aus dem Bauch schlüpfte, als man mir auf den Po klopfte.
Das war irgendwie unbehaglich. Dort drin war es warm gewesen, hier war
es kalt. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Es war die Empfindung eines
Übergangs. I: Du wurdest von deiner Mutter erzogen? B: Von meiner Mutter und meinem Vater. Wir waren eine gute und herzliche Familie. Es gab keine großen Probleme. I: Wann hast du angefangen, dich für Frauen zu interessieren? B: Sofort, gleich von Anfang an. Es gab nie sowas wie ein erstes Mal. Mein Interesse an Frauen begann schon mit den Windeln. Ich habe sogar noch Fotos, als ich neben einem Mädchen sitze und ihr wohin schaue. Ich denke nicht, dass es so etwas wie Geschlechtsreife gibt. Der Mensch wird schon reif geboren. I: Was war, das wissen wir jetzt, aber was ruft heute in dir dieses warme Gefühl hervor? Ehefrau Vita B: Die Erinnerungen daran, dass ich rennen konnte. Meine Frau. Eine Ausstellung, die gelungen ist, das heißt, dass ich als Künstler noch nicht tot bin. Diese wenigen Komponenten sind es. Während in meiner Jugend noch alles auf Sexualität basierte, dann ist das jetzt mehr etwas anderes.
I: Wie arbeitest du? B: Das wichtigste ist, irgendetwas zu finden. Das ist wie eine ständige Suche. Aber ich denke, dass ist bei allen so, die sich unter visueller Anspannung befinden. Obwohl auf der anderen Seite diese Methode sehr veraltet ist, sie bleibt das Vorrecht der alten Leute und Journalisten. Denn die Kunst ist im Allgemeinen konzeptionell geworden und schnelle Fotografie wird jetzt dem Journalismus zugeordnet. Oder geschichtlich betrachtet. Früher konnten wir wegen der Zensur nicht alles fotografieren. Heute hingegen kann man alle Aufnahmen machen. Zum Beispiel von Tschetschenien. Ausdrucksvolle Bilder! Einfach gewaltig!!! I: Was kann man als junger Künstler für seine Karriere tun? B: Oh, das ist keine Frage für mich! Ich habe ein anderes Schicksal. Es war durch die Geschichte bestimmt. Ich akzeptierte die Situation einfach, in der ich mich befand. Damals gab es das Gefühl einer kommenden Veränderung. Heute gibt es das nicht mehr. Damals spiegelte die Fotografie de facto 70 Jahre lang nicht das reale Leben wider. Deshalb gab es zu meiner Zeit viel zu tun: das widerzuspiegeln, das noch blieb und bald spurlos verschwinden sollte. Es war ein weites Feld. Die Jugend erlebt das jetzt nicht mehr so. Hier im Westen war die Arbeit eines Fotografen nie eingeschränkt. I: Die historischen Veränderungen in unserem Land, ja auch in der ganzen Welt, ist das eine seltene Erscheinung? Wie hast du diese Umbruchzeiten erlebt? B: Das ist eine sehr seltene Erscheinung. Es war natürlich sehr hart. Es kann auch sein, dass es für einige leicht war. Zum Beispiel für mich. Ich hatte Glück. Mir gelang es Austellungen zu machen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich offiziell noch nie eins meiner Werke gezeigt oder ffentlich ausgestellt. Und dann eins, zwei, drei Ausstellungen, noch eine und noch eine, ein Buch und danach noch eins. Und so weiter. Während ich früher nie daran gedacht hatte, meine Fotografien zu verkaufen, konnöte ich plötzlich davon leben. Natürlich war das alles einzigartig, allein schon die Übersiedlung hierher, ohne die Sprache und Gesetze zu kennen, keine Kontakte zu haben und nicht zu wissen, wie man sich in der neuen Heimat angemessen verhält. Das war vom psychologischen Standpunkt aus sehr schwer und erst recht für mich in meinem Alter. I: Ich kenne dich schon lange und denke, dass dein Erfolg im großen und ganzen dein Verdienst ist. Ich bin der Meinung, dass du ein Künstler mit Eigeninitiative bist und nicht darauf gewartet hast, dass dir alles zufällt. B: Nun, natürlich ist das davon abhängig, aber weniger von mir, als von meiner Weltanschauung. In jenem Moment wurde mir klar, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Selbstverständlich hing das mit der Chru¸vära zusammen. Das verband sich irgendwie mit der Macht von Chru¸v. In dieser "Tauwetterperiode" glaubten wir, dass alles gut und besser werden würde. Es entstand eine idealistische Bürgeropposition. Doch genau so wie sie damals gestattet wurde, muss jetzt alles korrigiert werden. Und dann zu Zeiten Brenevs wurde alles beendet. Das alles rief auch meine Beziehung zur Realität hervor, die ich mit meinen Fotografien erfassen wollte. Mein Vorteil gegenüber anderen Fotografen bestand nicht darin, dass ich in der Lage war zu fotografieren, sondern, dass ich vollkommen natürliche, triviale und gewöhnliche Dinge abbildete. Das war eine aufmerksame, wenn auch krankhafte Beziehung zur Umwelt, aber sie erwies sich als wichtig. Und das ist auch der Grund meines Schicksals, obwohl sich nicht alles so einfach erklären lässt. Es gibt noch andere Meinungen, aber auf alle Fälle gibt es eine bestimmte Dynamik. I: Wie siehst du die Entwicklungen in der Zukunft? B: Ich denke, dass es für mich als Fotograf keine Zukunft geben wird. Sie wird nichts für mich und meine Fotografien verändern. Saa Rapoport sagte einmal, dass die Fotografie an sich eine Antiquität ist. Einen Tag nach der Aufnahme besitzt sie schon einen Vergangenheitsstatus. I: Und welche deiner Fotografien möchtest du gern auf unserer Internetseite zeigen? B: Die, die dir für die Leser von 007-berlin.de unter diesen hier interessant. erscheinen, die zeigst du. B: Jetzt möchte ich dir gern einige Fragen stellen. Was meinst du, bilde ich mich selbst in meiner Kunst ab oder spiegele ich die Realität wider, die existiert? I: Ich bin der Ansicht, du spiegelst dich selbst in dieser Realität wider. B: Und die Fotografie an sich, reflektiert sie mehr sich selbst oder die Realität? I: Ich denke, sie spiegelt mehr sich selbst, weil du es bist, der die Welt wahrnimmt. B: Und die Realität ist nirgends zu finden? I: Das ist schwer zu sagen, aber ich denke, dass jeder seine eigene Realität besitzt. B: Nun, ist das hier wirklich passiert, oder nicht? I: Ja, es ist passiert.. B: Es ist also real, es gibt sie also diese Realität. Was hab ich damit zu tun, wenn es wirklich so war? Wie nimmst du denn meine Fotografien wahr, die ich in der UdSSR gemacht habe? Sind sie Abbildungen der Realität, oder reflektieren sie mich selbst? I: Sie reflektieren nur dich selbst. B: Das heißt, sie sind nicht wahrhaftig? I: Doch, sind sie. B: Aber wenn sie es sind, dann ist das nicht meine Realität! I: Das ist richtig, sie sind real. Aber sie reflektieren trotzdem dich, denn so wie du kann sonst keiner fotografieren. B: Kann man mich kopieren? I: Nein, das kann man nicht. B: Doch. I: Nein. B: Doch, grundsätzlich ist das möglich. Wenn du an dem gleichen Ort gewesen wärst, dann hättest du es genauso aufgenommen. I: Fast genau so, nur ein bißchen anders. B: Es gibt die Tendenz etwas aus der Realität zu machen, diese Wirklichkeit zu erzählen. Manchmal gebe ich meine ästhetische Beziehung zur Realität wider, dann bin das ich. Diese Verschiebung der Wirklichkeit führt dann zur Metaphorik, zum Künstlertum. Aber mir ist wichtig, war es wirklich da, oder hab ich das alles nur erfunden? Das ist entscheidend, denn wenn ich Obdachlose in unrealen Posen zeige, habe ich dann mit meinem Verhalten Zweifel an der Realität geweckt? Bin ich dann etwa solch ein Verbrecher, der die Wirklichkeit verzerrt?! Aber tatsächlich ist das Leben ganz anders?! I: Gab es denn irgendwelche Anschuldigungen gegen dich? B: Nicht wirklich. Ich habe mich manchmal selbst angeklagt. I: Ich denke, dass die Realität für einen Menschen nicht wahrnehmbar ist, er ist an sie gewöhnt. Deshalb besteht die Aufgabe eines Künstlers darin, diese Wirklichkeit so markant wie möglich darzustellen. Darin besteht sein Talent. B: Das finde ich auch. Um diese Realität zu erkennen, muss man
der Wirklichkeit das Fell abziehen.
Das sind hier nur irgendwelche Spielereien. I: Aber warum hast du angefangen diese Aufnahmen zu machen? B: Weil das Pendel von der Realität zur Metaphorik schwingt. Und in einigen Momenten ist es interessant es genau so auszudrücken und in anderen wiederum ist es interessant, sich damit zu beschäftigen
Ich denke, als die Realität ihre Grenze erreichte, begann ich gelegentlich anders zu arbeiten. Du hast selbst gesagt, wiederholt sich alles, oder nicht? Und als ich fhlte, dass alles vorübergeht, versuchte ich diese Zeit einzufangen. Die Sache hatte nichts mit mir zu tun. Ich bin ein Vermittler dieser Realität, nicht ihr Schöpfer. Sie dreht sich in mir, ich kippe sie aus, und sie bleibt trotzdem die Wirklichkeit, das ist das wichtigste. Nun, stell den Lesern von 007-berlin.de diese Frage: Sind die Bilder persönlich, oder sind sie Realität? Und wenn es diese Wirklichkeit gibt, wieviel Prozent davon ist real und wieviel fiktiv? Das ist für mich sehr wichtig zu wissen. Denkt der Betrachter, dass es wirklich so war? Und wenn er darüber nachdenkt, dann wird das auch schon für mich ein weiterer Gewinn sein.ü
weitere Fotografien von Boris Michajlov anschauen......> Ildar Nazyrov,18. November 2002 Daniela Ließ (Übersetzung aus dem Russischen von Daniela Ließ ) Interview | Biografie
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