10. Brief aus Nizhnij
Aus aktuellem Anlass und wegen besorgter Nachfragen aus Deutschland
möchte ich heute mal einen kleinen Bericht erstatten, wie ich mich
derzeit im russischen Winter bei etwa –35°C (!) Tagestemperatur
fühle.
Temperaturanzeige.
© Daniela Ließ
Vor meinem Abflug aus Deutschland hatte ich mich, ehrlich gesagt,
moralisch auf maximal – 20°C während der Wintermonate eingestellt.
Dass ich nun Zeugin eines frostigen Temperaturrekords in Nizhnij
werde, hätte ich mir jedoch nicht träumen lassen. Nicht nur für
mich, sondern vor allem für die Russen selbst ist das natürlich
eine echte Sensation. Die aktuellen Temperaturen sollen um fast
20°C unter dem Normalwert für Januar liegen. Nach den Aussagen der
Meteorologen war es hier angeblich 1933 zum letzten Mal so kalt.
Selbst die modernen Temperaturanzeigen scheinen für die derzeitigen
Frostgrade nicht ausgelegt zu sein und haben bei größeren Werten
einfach keinen Platz mehr für das Minuszeichen.
Auf
der Straße. © Daniela Ließ
Von vielen Einheimischen habe ich inzwischen scherzhaft schon einen
Heldenstatus verliehen bekommen, da die momentane Kälte ja
bekanntlich auch bei weitem nicht der deutschen winterlichen Temperaturnorm
entspricht und ich mich hier trotzdem weiter wacker schlage. Die
tägliche Schlacht beginnt schon mit dem Anziehen. Bis ich zur letzten
Kleidungsschicht vorgedrungen bin, habe ich meist nicht nur einiges
an Zeit, sondern auch schon an Nerven verloren. Denn trotzdem fühle
ich mich oft so, als wäre ich im Badeanzug unterwegs, denn der Frost
auf der Straße durchdringt nach einigen Minuten auch die dicksten
Wintersachen, was derzeit ebenso unverkennbar an der schnelleren
Laufgeschwindigkeit der Bevölkerung ersichtlich ist. Viele legen
ihren Weg zur Arbeit nun meist im Stechschritt zurück. Trotz Temperaturrekord
geht das Leben und der Arbeitsalltag hier erstaunlicher Weise ganz
normal weiter. Selbst auf dem Markt bieten einige Händler unter
freiem Himmel oder in kalten Räumlichkeiten weiter ihre Waren an,
was ich sehr beeindruckend finde. Nur die Schüler können sich derzeit
über Unterrichtsausfall freuen. Den Physik- und Biologieunterricht
gibt es jetzt dafür live auf der Straße und auch ich kann einmal
am eigenen Leib erfahren, wie sich Extremtemperaturen auf das menschliche
Dasein auswirken oder wie man sich wohl jeden Winter in Sibirien
fühlen muss.
Am Wolgaufer. © Daniela Ließ
Besonders unangenehm ist die kalte Luft, die das Atmen sehr schwer
macht und beim Laufen durch den Gegenwind den Eindruck erzeugt,
als wenn tausend Eispickel auf die Haut schlagen. Dementsprechend
trifft man derzeit neben dem eigenen auch andere krebsrote Gesichter
auf der Straße mit gefrorenen Tränen oder reifbedeckten Bärten und
Augenbrauen. Interessant zu beobachten sind ebenso die Autoabgase,
die sich durch die Kälte zu wahren Wolkentürmen aufwirbeln und in
gehäufter Form fast schon mit Nebel- oder Rauchschwaden zu verwechseln
sind. Auch aus einigen Gullydeckeln qualmt es momentan gespenstisch.
Die Fensterscheiben der Busse und Straßenbahnen sind alle zugefroren,
wodurch man sich bei der Fahrt etwas orientierungslos oder wie in
einer wandelnden Plastiktüte fühlt.
Marschrutka. © Daniela Ließ
Der Frost, der zur Zeit den gesamten europäischen Teil Russlands
fest im Griff hat, ist mit Sensationscharakter natürlich nun auch
das Hauptthema in den Nachrichten. Die Schreckensberichte von Wohnhäusern
ohne Heizung und Menschen ohne Wasser oder Strom führen mir zum
wiederholten Male vor Augen, wie fast selbstverständlich sicher
nicht nur ich inzwischen die Stillung der menschlichen Grundbedürfnisse
hingenommen habe. Der russische Winter ist demnach für mich auch
eine gute Schule, wieder sensibler und dankbarer für die einfachsten
Dinge im Leben zu werden.
Durch die Kälte gab es inzwischen auch schon viele Todesopfer,
deren Zahl täglich wächst. In diesem Zusammenhang finde ich es einerseits
bedauerlich, dass man hier wohl erst bei – 30°C in den Nachrichten
auf Obdachlose und Hilfsbedürftige aufmerksam macht. Andererseits
gehört das Thema Armut jedoch bekanntlich zu den großen sozialen
Problemen des Landes, das man unverschwiegen täglich auf der Straße
sehen kann und mit dem der Großteil der russischen Bevölkerung nicht
nur im Winter zu kämpfen hat.
Wolga. © Daniela Ließ
Auch wenn man jetzt am liebsten kaum das Haus verlassen will,
lasse ich mir mindestens einen kleinen Spaziergang am Tag jedoch
trotzdem nicht nehmen. Das Schöne an dem derzeitigen Wetter sind
nämlich die Sonne und der blaue Himmel, die die Stadt und die Umgebung
in eine schneeglitzernde Märchenwelt verwandeln und trotz Extremtemperaturen
dem russischen Winter damit seinen besonderen Reiz geben.
Bei – 10°C kommen bei mir jetzt allerdings vergleichsweise fast
schon Frühlingsgefühle auf...
Herzlich warme Grüße aus dem frostigen Russland,
Daniela Ließ
Januar 2006
Kommentare zur Weiterleitung an: redaktion@007-berlin.de
|