11. Brief aus Nizhnij
Halbzeit! Nach fünf Monaten Russland und meinem ersten abgeschlossenen
Semester an der Universität in Nizhnij halte ich es für angebracht,
das erste kleine Fazit über meinen Auslandsaufenthalt zu ziehen.
Nizhnij ist für mich inzwischen ein richtiges Zuhause geworden.
Meine Entscheidung, hier ein Studienjahr zu verbringen, habe ich
bis jetzt kein bisschen bereut. Um ehrlich zu sein, fühle ich mich
hier oft schon so heimisch und wohl, dass es mir sicher schwer fallen
wird, wieder nach Deutschland zurückzukehren. Ich ertappe mich manchmal
sogar schon dabei, den Stolz eines echten Bewohners auf die Stadt
zu spüren und mit einer Art Heimatgefühl durch die Straßen zu laufen.
Da ich zu meinem Erstaunen häufig von Passanten angesprochen werde,
scheine ich wohl als Ausländerin kaum aufzufallen. Nizhnij kenne
ich mittlerweile so gut, dass ich selbst schon stolz Ratschläge
geben kann, wenn ich nach einer Haltestelle oder anderen Örtlichkeiten
gefragt werde. Das trägt dazu bei, dass ich ein Fremdheitsgefühl
immer mehr verliere und dadurch die Möglichkeit bekomme, noch tiefer
in Land und Kultur einzutauchen.
Historisches
Museum . © Daniela Ließ
Tatsächlich fühle ich mich inzwischen schon fast wie eine Russin,
denn mein Leben in Deutschland verschwindet immer mehr aus meinen
Gedanken. Wenn ich an die ersten Tage meines Aufenthaltes in Russland
denke, habe ich den Eindruck, dass ich mittlerweile ein ganz anderer
Mensch geworden bin. Auch durch meine gewachsenen Orts- und Sprachkenntnisse
fühle ich mich inzwischen viel mutiger und selbstsicherer. Ich spüre,
dass mich sowohl die positiven als auch negativen Erfahrungen sehr
prägen und meine soziale Kompetenz und persönliche Entwicklung enorm
davon profitieren. Je länger ich hier bin, desto mehr erkenne ich,
was für ein Geschenk es ist, über einen längeren Zeitraum eine andere
Kultur und das Leben ihrer Menschen kennenzulernen. Dabei erscheint
mir nicht nur ein Verständnis für das Fremde wichtig, sondern für
mich ist besonders auch der Vergleich zu Deutschland sehr interessant.
Egal ob auf politischer oder kultureller Ebene, führt er mir immer
wieder Aspekte vor Augen, über die ich früher wohl noch nie so intensiv
nachgedacht habe. Ich bin deshalb der Meinung, dass mich das Leben
in Russland mit meinen Erfahrungen aus Deutschland sensibler, dankbarer
und bescheidener macht und ich mich selbst viel besser kennen lerne.
Nach den anfänglichen Eingewöhnungsschwierigkeiten in das russische
Bildungssystem fühle ich mich nun auch in der Universität sehr heimisch.
Nach den ersten aufregenden Wochen, wo alles neu und spannend war,
hat sich im Laufe der Zeit ein lernintensiver Alltag eingestellt.
Dank dessen bewundere ich bereits nach nur einem Semester einen
großen Wissenszuwachs, den man meiner Meinung nach in einer deutschen
Universität in der Form so nicht bekommt. Die familiäre Atmosphäre
unter den russischen Studenten sowie die Strenge und Disziplin des
Unterrichtsstils haben mir schnell geholfen, Anschluss zu finden
und Kontakte zu knüpfen.
Kreml.
© Daniela Ließ
Doch leider muss ich feststellen, dass mir als Ausländerin nur
selten ein gesteigertes Interesse oder besondere Fürsorge entgegen
gebracht wird. Ich habe oft den Eindruck, dass man hier schwer an
die Menschen rankommt und sich bedauerlicherweise kaum jemand auf
einen Kulturaustausch einlassen möchte. Dies macht es mir bis heute
nicht immer leicht; manchmal fühle mich etwas einsam und unverstanden.
Vielleicht ist das auch ein Grund, dass die ersten fünf Monate für
mich relativ langsam vergangen sind. Sicher hat meiner Meinung nach
dabei aber auch das Wetter einen großen Einfluss, denn nach einem
zauberhaft goldenen und warmen Herbst, hält sich zur Zeit weiterhin
die überwiegend dunkle, kalte und unangenehme Jahreszeit, die bestimmt
nicht nur mir ein wenig aufs Gemüt drückt.
Zusammenfluss. © Daniela Ließ
Doch trotz allem kann ich für die erste Hälfte meines Aufenthaltes
in Russland persönlich ein sehr positives Fazit ziehen. Die Orientierungs-
und Eingewöhnungsschwierigkeiten der Anfangsphase habe ich gut überstanden.
Mit der Zeit habe ich außerdem schon viele Situationen gemeistert,
mit denen man als Ausländer im fremden Land zu kämpfen hat. Dazu
zählen sicher nicht nur die anfänglichen Unsicherheiten und Sprachschwierigkeiten,
sondern vor allem die Anpassung an ein völlig anderes Leben und
das Verständnis für die fremde Kultur. Mit Überzeugung kann ich
mittlerweile sagen, dass der Alltag in Russland wesentlich anstrengender,
nervenaufreibender und schwieriger als in Deutschland ist. Nicht
nur Ausländern werden viele Steine in den Weg gelegt, die mich trotz
allen schönen Momenten jeden Tag auf die Probe stellen, nicht aufzugeben,
weiterzukämpfen und vor allem den Mut nicht zu verlieren.
Wolga. © Daniela Ließ
Im Hinblick dessen blicke ich mit Stolz, Freude und Dankbarkeit
auf meine bisher gesammelten Erfahrungen und bin auch mit den Resultaten
meines Studiums mehr als zufrieden.
Ich freue mich schon auf das nächste Semester und bin sehr gespannt,
welche Eindrücke und Erlebnisse mir meine nächsten fünf Monate in
Russland bringen werden.
Viele Grüße aus Nizhnij,
Daniela Ließ
Februar 2006
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