Moskau. Abend. © Daniela Ließ

12. Brief aus Nizhnij

Wie in Čechovs Drama „Die drei Schwestern“ hieß es auch bei mir vor kurzem: „Auf nach Moskau!“ Damit erfüllte sich mein schon lange bestehender Wunsch, endlich einmal persönlich die russische Hauptstadt kennenzulernen.

Spasskij-Turm des Kremls . © Daniela Ließ

Mit dem Zug von Nizhnij aus erreicht man das 450 Kilometer entfernte Moskau in 4,5 Stunden. Schon während der Zugfahrt bekommt man einen Vorgeschmack auf den fortschrittlichen und westeuropäischen Charakter der Stadt. Während die regionalen Vorortzüge oder sogenannten Elektrischkas mit einfachen harten Holzbänken, zugigen Fenstern und ohne eine einzige Toilette ausgestattet sind, erlebt man in den höchst komfortablen Waggons der Schnellzüge in Richtung Moskau das ganze Gegenteil (zu einem viel höheren Preis selbstverständlich). Dort wird man mit Teppichauslagen, warmer Heizung und einem kleinen Imbiss von einem ungewohnt freundlichen Zugpersonal empfangen. Während der Fahrt sorgen Fernseher sowie Radio für das entsprechende Unterhaltungsprogramm und eine gemütliche „Wohnzimmeratmosphäre“ unter den Passagieren. Ein Fahrkartenschalter für Tickets bis nach Sibirien und ein Restaurant sorgen im Zug außerdem für einen ganz besonderen Service. Trotz aller Annehmlichkeiten steht dies für mich jedoch in einem großen Widerspruch zu den mir sonst bekannten russischen Verhältnissen. Mit Blick aus dem Fenster auf ärmlich erscheinende winterliche Dörfer wurde mir schon im Zug bewusst, wie groß nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch sozialen Unterschiede zwischen der Hauptstadt und dem restlichen Russland sind.

Eingang in Metro. © Daniela Ließ

Als ich an einem der acht Bahnhöfe Moskaus ausgestiegen bin, spürte ich sofort, wie mir das westeuropäische Großstadtklima entgegenschwappte. Wer öfter in Berlin, Paris oder London unterwegs ist, wird meiner Meinung nach auch in der russischen Hauptstadt wenig Orientierungsschwierigkeiten haben. Dies betrifft auch die Preisverhältnisse, die im Vergleich zu Nizhnij teilweise doppelt so hoch sind und mich sogar hinsichtlich einer Umrechnung in Euro etwas schockiert haben. Besonders die Fahrpreise für die öffentlichen Verkehrsmittel (im Durchschnitt etwa 15 Rubel) erscheinen mir für die Bewohner aus der russischen Provinz übertrieben fast ein halbes Vermögen zu sein. Doch dafür erweist sich vor allem die Untergrundbahn als das beste und schnellste Verkehrsmittel in Moskau. Außerdem kann man sich genauso wie in Petersburg in den Metrostationen wie im Museum fühlen. Besonders die Haltestellen im Zentrum demonstrieren mit einmaligen Mosaiken oder schmückenden Steinornamenten atemberaubende Architekturkunst. Zum Staunen und Gucken bleibt zu Verkehrsstoßzeiten jedoch wenig Zeit und Raum, denn dann bekommt man ein authentisches und nervenstrapazierendes Gefühl von den geschätzten 14 Millionen Einwohnern sowie dem schnellen Lebensrhythmus der Stadt. Davon zeugen nicht nur die vollgestopften Metrobahnen und das Menschengewühl auf den Rolltreppen sowie an den Eingängen, sondern besonders auch die vielbefahrenen, bis zu achtspurigen Straßen, wo der Verkehr teilweise so laut ist, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen kann.

Basilius-Kathedrale (Pokrovskij Sobor). © Daniela Ließ

Für die metropolischen Größendimensionen sorgen auch viele beeindruckende Gebäude und Anlagen im Zentrum Moskaus. Für mich sprechen nicht nur deren äußerer und innerer Prunk, sondern vor allem der städtische Reichtum eindeutig dafür, dass Moskau es zu Recht verdient, russische Hauptstadt zu sein. Beim Betreten des Roten Platzes oder des dahinter liegenden Kremlgeländes konnte ich die vom dort ansässigen Regierungssitz ausgehende Macht förmlich spüren. Dieses Gefühl verstärkten die vielen Schutzbeamten und Milizionäre, die auf die Einhaltung strenger Sicherheitsregeln achten und beispielsweise das Betreten des Mausoleums zu einem wahren Erlebnis werden lassen. Wer bis zu Lenins aufgebahrter Leiche vordringen will, sollte wie immer in Russland nicht nur Geduld, sondern auch viel Verständnis für die Sicherheitsmaßnahmen mitbringen.

Denkmal. © Daniela Ließ

Nicht nur anhand des Mausoleums konnte ich in Moskau eine Vorstellung bekommen, welche Bedeutung die Russen ihrer Landesgeschichte beimessen.
Die vielen Kriegsdenkmäler, die ich in Moskau in auffallend großer Zahl angetroffen habe, führen mir vor Augen, dass hier dem öffentlichen Mahnmalcharakter eine hohe Wichtigkeit zuerkannt wird. Für mich ist daran ersichtlich, dass die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg mit seinen Ereignissen und Opfern bis heute im Leben der Russen eine bedeutsame Rolle spielt. Ich erachte es in diesem Zusammenhang als sehr sinnvoll und beispielhaft, dass die vielen Erinnerungsstätten nicht nur zu Gedenk-, sondern gleichzeitig auch zu Erziehungszwecken nachfolgender Generationen dienen.

Erlöserkathedrale. © Daniela Ließ

Durch meine Eindrücke und Erfahrungen aus Moskau sehe ich nun auch meinen Studienort Nizhnij vergleichsweise in einem ganz anderen Licht und muss wohl jetzt von einem eher ruhigeren „Dorf“ sprechen, das mir persönlich jedoch tausendmal lieber ist. Meiner Meinung nach charakterisiert sich das Leben hier in vielen Dingen noch als „russischer“, urtypischer und damit für mich interessanter, auch wenn schon einige Ansätze zu einem nach Westeuropa ausgerichteten Standard in der Stadt zu erkennen sind.

MGU . © Daniela Ließ

Winterliche Grüße aus Nizhnij,
Daniela Ließ

Februar 2006
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