17. Brief aus Nizhnij
In Nizhnij ist inzwischen spürbar der Frühling eingekehrt. Die
Sonne und die wärmeren Temperaturen haben dem Schnee nun endgültig
ein Ende gemacht und lassen die Natur aus dem Winterschlaf erwachen.
An einigen Bäumen habe ich sogar schon die ersten Knospen gesehen.
Nicht nur ich erwarte mit Sehnsucht das erste Grün und bin froh,
dass die kalte Jahreszeit endlich vorbei ist. Nach dem langen und
harten Winter habe ich sogar den Eindruck, dass die Frühlingsgefühle
in Russland stärker ausgeprägt sind als in Deutschland. Die Sonnenstrahlen
locken alle aus ihren Löchern hervor und füllen die Straßen und
Plätze der Stadt mit auffällig mehr Leben.
Theatr Dramy. © Daniela Ließ
Mit Beginn der wärmeren Jahreszeit können die Russen jetzt wieder
mit Vorliebe ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen – spazieren
zu gehen. Auf dem Kremlgelände, am Flussufer sowie an den unzähligen
Aussichtspunkten auf Wolga und Oka tummeln sich besonders viele
Menschen. Einige bringen sogar Getränke und Chips mit und lassen
bei herrlichem Ausblick und anregenden Gesprächen sichtbar die Seele
baumeln. Diese Art der Freizeitbeschäftigung scheint eine der beliebtesten
und weitverbreitetesten in Russland zu sein, die übrigens nicht
nur für die junge Bevölkerung typisch ist. Viele Jugendliche haben
inzwischen auch ihr Fahrrad, Skateboard oder ihre Rollschuhe wieder
herausgeholt und vergnügen sich damit in der Stadt.
Afischy.
© Daniela Ließ
Neben den sportlichen Aktivitäten ist die Freizeit der Russen aber
vor allem durch das vielfältige kulturelle Leben in Nizhnij ausgefüllt,
dessen Angebote auch ich mit Begeisterung nutze. Neben zahlreichen
interessanten Museen sorgen besonders die Theateraufführungen für
viele angenehme und unterhaltsame Stunden. Das qualitative Niveau
der Stücke schätze ich im Vergleich zu Deutschland im Allgemeinen
als wesentlich höher ein. Der Großteil der Aufführungen wird noch
sehr klassisch und traditionell inszeniert, konzentriert sich allerdings
nicht nur auf russische Autoren. Meine Begeisterung für das Theater
in Russland rührt vor allem von dem einmaligen Talent und der sichtbar
guten Ausbildung der Schauspieler her. In Nizhnij gibt es sogar
ein Theater der Schauspielhochschule, wo man sich vom Talent der
jungen Studenten überzeugen kann.
Gorki
Denkmal. © Daniela Ließ
Die Zuschauer bedanken sich nach den Aufführungen nach russischer
Art meist nicht nur mit Applaus, sondern überreichen den Darstellern
zusätzlich Blumen. Wie ich festgestellt habe, setzt sich allerdings
auch in Russland zunehmend eine an Westeuropa orientierte Moderne
in den Theaterstücken durch, die viele Zuschauer mit gerunzelten
Stirnen entlässt oder deren Begeisterung mittels neumoderner Effekte
zu gewinnen versucht.
Neben den Schauspielern genießen ebenso Regisseure und deren Filme
in Russland einen auffallend hohen Bekanntheitsgrad. Viele russische
Kultfilme gehören meiner Meinung nach inzwischen „zum Volk dazu“
und spiegeln, genau wie die Literatur, seinen Charakter wider. In
Nizhnij gefällt mir besonders gut, dass es neben den neumodernen
Großkinos auch ein paar alternative Einrichtungen gibt, die ebenso
weniger bekannte oder alte Filme zeigen und weniger konsumorientiert
sind.
Alexander
Filippenko (Schauspieler) . © Daniela Ließ
Für das kulturelle Leben der Stadt spielt außerdem die Musik eine
große Rolle. Die Philharmonie, das Konservatorium (dessen Stolz
übrigens eine in Potsdam gebaute Orgel ist) oder das Opern- und
Balletthaus sind nur einige der unzähligen mit Musik verbundenen
Einrichtungen in Nizhnij. Die meisten russischen Haushalte sind
sogar mit einem Klavier ausgestattet, da eine dementsprechende Ausbildung
der Kinder und Jugendlichen in den zahlreichen Musikschulen der
Stadt sehr verbreitet ist.
Orgel.
© Daniela Ließ
Auch ich fülle meine Freizeit in Nizhnij mit Musik und singe schon
seit September mit Freude im Universitätschor mit. Während den Proben
ist zu spüren, dass die vokalische Ausbildung sehr streng, dafür
aber qualitativ gut ist und es zu einem wahren Genuss wird, auch
anderen Chören zuzuhören. Außerdem gehe ich einmal wöchentlich zu
einem Aerobic-Kurs und besuche samstags das Schwimmbad. In diesem
herrschen in Russland allerdings sehr strenge Regeln, die einen
Zutritt zum Beispiel nur mit ärztlichem Gesundheitszeugnis, Badekappe
sowie ausschließlich zu einer festgelegten Zeit per Abonnement gestatten.
Universitätschor.
© Daniela Ließ
Neben den unzähligen Freizeitangeboten in der Stadt stellt die
klassischste russische Art der Erholung jedoch eine Fahrt auf
die Datscha dar. Viele Einwohner besitzen in den Siedlungen rund
um Nizhnij einen kleinen Garten mit einem Häuschen, in dem einige
sogar den ganzen Sommer verbringen, um die Natur und die frische
Luft ausgiebig zu genießen.
Skispringen in Nizhnij. © Daniela Ließ
Allerdings gibt es auch viele Einwohner, die sich bald wieder
Schnee wünschen, da der Wintersport unter den Russen sehr beliebt
ist. In den Wäldern in und rings um Nizhnij sind zur kalten Jahreszeit
besonders viele Skiläufer unterwegs bzw. rodeln die Kinder mit Freude
die extra auf den Bürgersteigen aufgeschütteten Schneeberge hinunter.
Durch die einmalige Lage der Stadt gibt es in Nizhnij sogar eine
Skischanze, auf der bis heute nationale Weltkämpfe ausgetragen werden.
Herzliche Grüße aus dem Frühling in Nizhnij,
Daniela Ließ
April 2006
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