20. Brief aus Nizhnij
Mit den letzten Maitagen endeten nicht nur für viele Studenten
die Vorlesungen, sondern auch für die 9- oder 11-Klässler die Schulzeit.
So wie der 1. September (Beginn des Schuljahres) wird auch traditionell
der letzte Schultag in ganz Russland gefeiert und trägt die Bezeichnung
„последний
звонок“ („letztes Klingelzeichen“).
Gemäß der Tradition ist es bei den Festveranstaltungen üblich, dass
ein Schüler der 11. Klasse ein Mädchen der 1. Klasse mit einer Glocke
in der Hand auf seine Schulter setzt und sie dann läutend durchs
Schulhaus ziehen. Die Absolventen haben an diesem Tag außerdem alle
ein Glöckchen an ihrer Kleidung und die Mädchen tragen zusätzlich
in Erinnerung an die damalige Schuluniform die bekannten weißen,
großen Haarbänder.
Philfak.
© Daniela Ließ
Auch in Nizhnij haben die Schüler ausgiebig gefeiert. Es war vielen
anzumerken, dass sie mit Schmerzen Abschied von der Schulzeit und
der dort so vertrauten familiären Atmosphäre nehmen. Für alle Absolventen
stehen nun die Abschlussprüfungen an, die es gilt, möglichst gut
zu bestehen. Ein hervorragender Schulabschluss wird in Russland
mit einer goldenen Medaille ausgezeichnet, die einen automatischen
Eintritt in die gewünschte Universität oder Hochschule zur Folge
hat und damit von den dort allseits gefürchteten, schweren Aufnahmeprüfungen
befreit.
© Daniela Ließ
Hinter mir liegt inzwischen auch fast ein ganzes Studienjahr in
Russland und damit ein umfassender Einblick in das russische Hochschulsystem.
Diese Erfahrung halte ich für sehr wertvoll, da sie mir nicht nur
einen Vergleich zur deutschen Bildung erlaubt, sondern mir zusätzlich
das Land an sich noch viel näher gebracht hat. Meine anfänglichen
Eindrücke vom Universitätsleben haben sich inzwischen relativiert
bzw. noch mehr bestätigt. Bis heute fällt es mir jedoch schwer zu
sagen, ob ich das russische oder deutsche System für besser halte.
(Eine Mischung aus beiden wäre wohl am idealsten.)
Nach meinen persönlichen Erfahrungen bin ich zu der Schlussfolgerung
gekommen, dass den Studenten in Deutschland außerhalb der Wissensebene
wesentlich mehr abverlangt wird und es dort schwieriger ist, sich
durch den „Dschungel Universität“ zu kämpfen. Andererseits garantiert
die russische Universität ein zügiges, geregeltes und sicheres Studium.
© Daniela Ließ
Eine russische Lehrerin, die selbst vor kurzem für einige Zeit
in Deutschland studiert hat, ist der Meinung, dass man russische
Studenten ständig auffordern müsse zu arbeiten, während deutsche
selbstständiger und lernwilliger seien. Allerdings ist zu sagen,
dass die russische Hochschule den Studenten wenig Eigeninitiative
abverlangt, da „nur“ ein vorgegebenes Pflichtprogramm erfüllt werden
muss und eigenes Denken wenig gefördert wird.
Der Schwerpunkt der russischen Bildung liegt besonders in den Geisteswissenschaften
eindeutig auf der Vermittlung von Wissen, was zum Beispiel im Diktierstil
vieler Dozenten Ausdruck findet. Ich habe hier leider so gut wie
nie fachliche Diskussionen in den Seminaren erlebt und festgestellt,
dass die Studenten selten Gegenfragen stellen bzw. meist alles als
gegeben hinnehmen. Dies führt dazu, dass der Umfang der Vorlesungen
bzw. des vorzubereitenden Prüfungsstoffes erschlagend groß ist.
In der Philologischen Fakultät erscheinen mir außerdem die Lektürelisten
für jedes Semester oft kaum bewältigbar und sind nur ein Beispiel
dafür, dass das Studium in Russland bezüglich des Lernwillens zu
Recht als sehr schwer angesehen wird. Außerdem müssen die Studenten
viele fachfremde Seminare belegen, die zwar in großen Maße zur Allgemeinbildung
beitragen, mir im Sinne einer Spezialisierung jedoch völlig unsinnig
und zeitverschwendend erscheinen. Vergleichend würde ich mir an
den deutschen Hochschulen allerdings mehr Strenge im Studium wünschen,
da ich hier oft auf mein beschämendes, fehlendes Wissen aufmerksam
wurde und stets z.B. von den sehr guten Fremdsprachenkenntnissen
der russischen Studenten beeindruckt war.
9.
Im Kreml. © Daniela Ließ
Das Universitätsleben in Russland wirkte auf mich oft wie eine
Fortsetzung der Schule, was sicher auch daran liegt, dass das Eintrittsalter
in eine Hochschule bei 17 Jahren liegt. Demnach halten viele die
z.B. auf den Fluren Fangen spielenden Studenten geistig noch nicht
reif genug für ein kritisches, selbständiges, forschendes Studium.
Die tägliche Modenschau der Mädchen zeigt außerdem, dass viele der
Studentinnen teilweise auch gar nicht an einem solchen Studium interessiert
sind, sondern selbst zugeben, auf eine Heirat mit einem reichen
Mann bzw. die Wirkung ihres Minirockes in der Prüfung zu hoffen.
Die Benotungen der Dozenten in Russland habe ich allgemein als
wenig objektiv wahrgenommen. In erster Linie wird der Fleiß sowie
das sichtbare Bemühen der Studierenden belohnt. Das ganzzahlige
Notensystem von 1 bis 5 lässt andererseits jedoch auch keine großen
Abstufungen der Leistungsbewertungen zu, so dass eine russische
5 (was einem „ausgezeichnet“ entspricht) sehr schnell vergeben wird
und bei weitem nicht mit einer deutschen 1,0 zu vergleichen ist.
Wolga.
© Daniela Ließ
Was auf mich einen sehr positiven Eindruck gemacht hat, ist die
Achtung und Wertschätzung der russischen Studenten gegenüber der
Bildung und den Lehrern. Die Traditionen einer landesweiten Studentenhymne,
das Aufstehen zur Begrüßung des Lehrers, die Feierlichkeiten rund
um die Fakultätsfeste sowie die enge Beziehung der Studierenden
zu ihrer Universität sind etwas, was ich in Deutschland schmerzlich
vermissen werde. Die Persönlichkeit im russischen Studentenalltag
und das Gefühl, zur Universität dazuzugehören haben mir gezeigt,
dass das Lernen dabei sehr viel leichter fällt und entschieden mehr
Spaß macht.
Büste des Philologen Dal'. © Daniela Ließ
Rückblickend hat mir mein Studium in Nizhnij wirklich sehr viel
Freude bereitet. Dank der qualitativ hohen Ausbildung werde ich
nicht nur mit einem unglaublichen Wissenszuwachs, sondern vor allem
mit dem wahren Geist meines Russistikstudiums zurückkehren. Erst
jetzt, nach zwei Semestern in Russland, werde ich mich bereit dazu
fühlen, mich nach Abschluss meines Studiums in Deutschland mit Überzeugung
Slawistin zu nennen.
Herzliche Grüße aus dem beeindruckenden Russland,
Daniela Ließ
Juni 2006
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