Blick auf Strelka. © Daniela Ließ

21. Letzter Brief aus Nizhnij

„Der Sinn des Reisens besteht darin, die Vorstellungen mit der Wirklichkeit auszugleichen, und anstatt zu denken, wie die Dinge sein könnten, sie so zu sehen wie sie sind.“
                                                                                                       Samuel Johnson

© Daniela Ließ

Nach fast zehn Monaten heißt es für mich nun Abschied nehmen von Russland, Nizhnij Novgorod und meinem so einzigartigen und faszinierenden Leben hier.

Winter. © Daniela Ließ

Hinter mir liegt eine aufregende, ereignisreiche Zeit, die sich mit Worten und Bildern eigentlich gar nicht wiedergeben lässt, sondern vielmehr Teil meines persönlichen Erfahrungsschatzes bzw. Ausdruck meines neuen Ichs ist. Mittlerweile fühle ich mich nun wirklich wie eine Russin und spüre, wie sehr mich die zehn Monate in diesem Land geprägt und verändert haben.

Wolga © Daniela Ließ

Na Dache . © Daniela Ließ

Es ist etwas Wahres dran, wenn behauptet wird, dass nur der Ausländer längere Zeit in Russland leben kann, der dieses Land liebt und ernsthaft bereit ist, sich auf das russische Leben einzulassen. Als Westeuropäer sollte man gewillt sein, seine gewohnten Ansprüche um ein Vielfaches zurückzuschrauben und Verständnis und Feingefühl im Umgang mit Russen zu beweisen. Außerdem ist es meiner Meinung nach wichtig, den Willen zu haben, die zahlreichen Vorurteile über das Land zu hinterfragen und „anstatt zu denken, wie die Dinge sein könnten, sie so zu sehen, wie sie sind“.

Kremlmauer © Daniela Ließ

Jeder erlebt Russland anders und weiß etliche in Deutschland gefragte Schauergeschichten über Kakerlaken in der Wohnung, drei Wochen kein warmes Wasser oder korrupte Polizeibeamte zu berichten. Sicher war es auch für mich größtenteils ein Abenteuer, das ich hier erlebt habe. Doch zum einen weiß ich, dass Russland weit mehr ist als das und zum anderen haben mir alle gemachte Erfahrungen letztendlich die Möglichkeit gegeben, nicht nur eine andere Kultur, sondern außerdem mich selbst noch mehr kennen zu lernen.

Stadtwappen © Daniela Ließ

Am meisten wird mir wohl die unbeschreibliche russische Seele fehlen bzw. das, was Russland eben zu Russland macht. Angefangen bei dem manchmal etwas chaotischen, überraschungsfreudigen Alltag, den Fellschapkas im Winter, den melancholischen Liederabenden mit Gitarre, der leckeren russischen Küche oder der mächtigen Sprache sind mir sogar die klapprigen Straßenbahnen ans Herz gewachsen. Es fällt mir schwer, Abschied zu nehmen von einem Land, in dem viele Bewohner ein so armes, bescheidenes, oftmals ungerechtes Leben führen und trotzdem von sich sagen, nirgendwo anders wohnen zu wollen. Glück und Zufriedenheit definieren sich in Russland eben auf eine andere Art, die ich mit der Zeit immer mehr zu schätzen gelernt habe, aber die die meisten Westeuropäer wohl leider kaum noch verstehen können. Mit all den Facetten des Alltags habe ich mich der Menschlichkeit hier näher gefühlt und werde die spürbare Verbundenheit unter den Einwohnern mit ihrer Liebe und Stolz zum Heimatland schmerzlich in Deutschland vermissen.

Blick auf Strelka © Daniela Ließ

Dennoch habe ich festgestellt, dass sich in den letzten Jahren einiges in Russland getan hat. Beispielsweise wird die Mittelschicht in der russischen Bevölkerung meinen Beobachtungen nach vor allem in den Städten immer größer. Viele können es sich inzwischen leisten, das teure Studium der Kinder zu finanzieren, die neueste Elektrotechnik zu besitzen, öfter in ein neumodernes Großraumkino zu gehen oder sogar einmal im Jahr Urlaub im Ausland zu machen. Auch das Stadtbild von Nizhnij und der Alltag zeigen deutlich, dass der Komfort und Standart in diesem Land wächst und es mittlerweile fast alles in Russland zu kaufen gibt.

Wolga . © Daniela Ließ

Doch trotz der fortschrittlichen Entwicklung des Landes hoffe ich sehr, auch in ein paar Jahren noch von der russischen Seele verzaubert zu werden und wünsche mir, dass sich das Volk nicht von seinen langen Traditionen und landestypischen Eigenheiten abwendet. Ich finde es sehr schade, dass auch in Russland inzwischen ein amerikanischer Trickfilm einem schönen Volksmärchen vorgezogen wird oder viele Russen inzwischen ebenso dazu neigen, auf die ihre alltägliche Floskelfrage „Как дела?“ („Wie geht’s dir?“) eigentlich gar keine Antwort zu erwarten.

Kirche. © Daniela Ließ

Ich bin trotzdem überzeugt davon, dass meine Rückkehr nach Deutschland einen großen Kulturschock in mir hervorrufen wird, der sich ganz bestimmt nicht nur durch die deutsche Sauberkeit und Ordnung oder die fast schon vergessene Muttersprache begründen lässt. Nach zehn Monaten Abwesenheit werde ich mich in der Heimat wohl wie eine Ausländerin fühlen bzw. als Außenstehende auf Deutschland blicken und dabei sicher aber auch interessante Beobachtungen machen.

Für mich persönlich kann ich sagen, dass meine Zeit in Nizhnij mit allen Höhen und Tiefen des Alltags zu einer der schönsten und wertvollsten Erfahrungen meines Lebens geworden ist, auf die ich nicht nur stolz, sondern für die ich vor allem sehr dankbar bin. Obwohl mir Russland zwar bis heute manchmal unbegreiflich erscheint, hat dessen Zauber meine Seele trotzdem spürbar weiter gemacht und das Land einen großen Platz in meinem Herzen eingenommen. Und auch wenn das Heimweh und die Vorfreude auf meine Rückkehr nach Deutschland nun sehr groß sind, weiß ich trotzdem jetzt schon, dass ich ganz bestimmt bald wieder in meine zweite Heimat nach Russland fahren werde...

Herzliche Grüße aus Nizhnij,
Daniela Ließ

Juni 2006
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