3. Brief aus Nizhnij
Anscheinend macht das Wetter gerade nicht nur mir, sondern auch
Zentralrussland ein besonders schönes Geschenk und beschert uns
nach einem fantastischen Altweibersommer nun einen zauberhaft goldenen
Herbst. Schon seit sechs Wochen scheint fast jeden Tag die Sonne
und verwöhnt uns mit Temperaturen um 20 Grad. Selbst für die Russen
wird das langsam ungewöhnlich und es fällt nicht nur mir schwer,
mich bei diesem Wetter auf das Studium zu konzentrieren.
Mathimatiker
Bogoljubov © Daniela Ließ
Das Akademische Jahr beginnt in Russland traditionell am 1. September.
Während sich also meine Kommilitonen in Deutschland gerade erst
wieder an den Studienalltag gewöhnt haben, stecken wir in Russland
schon mittendrin.
Für mich war der Studienbeginn hier anfangs gar nicht so leicht,
denn das russische Hochschulleben unterscheidet sich in Vielem von
dem deutschem.
©
Daniela Ließ
Die Philologische Fakultät befindet sich mitten im Zentrum auf
der größten und ältesten Straße der Stadt – der Bol’schaja Pokrovskaja,
die auch gleichzeitig als Fußgängerzone und Einkaufsmeile fungiert.
Nicht nur dort herrscht also ständig Trubel und Verkehr, denn wenn
ich das Universitätsgebäude betrete, fühle mich immer wie auf dem
Bahnhof. Die Flure sind prall gefüllt mit Studenten, die einen entsprechenden
Geräuschpegel erzeugen und wie die Bienen umherschwirren. Wie wohl
an jeder Philologischen Fakultät sind auch hier 80 Prozent der Studenten
weiblich. Das gibt dem Ganzen allerdings auch seine eigene Besonderheit,
denn wahre Trauben von Studentinnen versammeln sich in den Pausen
zum Schminken und Stylen vor großen Spiegeln, die fast überall im
Gebäude angebracht sind. Für mich ist es sehr ungewöhnlich, dass
man hier im gleichen Outfit in die Uni geht wie in Deutschland in
die Diskothek oder Oper.
Bol’schaja
Pokrovskaja © Daniela Ließ
Die Damen stöckeln also bevorzugt in kurzen Miniröcken oder auffälligen
Designerklamotten zum Studium während viele Männer im Anzug erscheinen.
Manchmal frage ich mich wirklich, ob ich in der Uni, oder auf einer
Modenschau gelandet bin...
In jedem Universitätsgebäude befindet sich übrigens auch eine
Garderobe, wo man kostenlos Jacken und Mäntel abgeben kann. Was
für ein Service!
Um so erstaunlicher finde ich es aber, dass sich die zurechtgemachten
jungen Damen ernsthaft für Morphologie oder russische Literaturgeschichte
begeistern können, während sie doch auch während der Vorlesung gelegentlich
mit kleinen Handspiegeln ihr Aussehen prüfen und Lippenstift oder
Rouge nachlegen. Die mir bekannte Gewohnheit deutscher Studenten,
während der Vorlesung zu essen und zu trinken, ist hier allerdings
wenig verbreitet. Das liegt sicher daran, dass das Studium in Russland
wesentlich strenger organisiert ist als in Deutschland und mich
sehr an meine alte DDR-Schulzeit mit festgelegtem Stundenplan, Klassenbuch
und medizinischer Untersuchung für Erstsemestler erinnert. Ich muss
mich sogar wieder daran gewöhnen, dass auch am Samstag Vorlesungen
und Seminare stattfinden und der Studientag in der Regel um acht
Uhr morgens beginnt.
©
Daniela Ließ
Neben Englisch und meist einer weiteren Fremdsprache sind Sport
und russische Geschichte hier generell für jeden im ersten und zweiten
Studienjahr Pflicht. Wenn ich von meinem selbstgebauten Stundenplan
und dem doch eher locker organisierten Studium in Deutschland erzähle,
bekommen alle hier ziemlich große Augen.
Ich merke aber auch, dass die Beziehung zwischen den Studenten
und Professoren in Russland im Vergleich zu Deutschland wesentlich
enger ist. Es ist hier sogar üblich, beim Eintreten des Lehrers
aufzustehen und damit seine Hochachtung und Wertschätzung auszudrücken.
Es gibt auch einen offiziellen „Tag des Lehrers“, an dem die Schüler
und Studenten Blumen verschenken und sich bei ihren Lehrern für
die Wissensvermittlung bedanken.
Während in Deutschland in den Universitäten leider eine allgemeine
Anonymität herrscht, kennt hier dagegen jeder jeden. Man fühlt sich
wie in einer Familie, wo es völlig normal ist, auch mit seinen persönlichen
Problemen ins Dekanat zu gehen. Andererseits spürt man aber auch
den Druck, den die Professoren auf die Studenten ausüben, indem
sie zu Fleiß und Ehrgeiz ermahnen. Der Unterrichtsstil an der Universität
wirkt auf mich sehr verschult und ungewohnt veraltet. Hier wird
teilweise sogar noch wie in der Schule diktiert. Ebenso fremd ist
mir, dass Internet, Polylux, Beamer oder Kopierer im russischen
Studentenalltag fast überhaupt keine Rolle spielen. Die technische
Ausstattung an der Universität ist allerdings auch weit entfernt
von der deutschen. Auch über den Zustand der sanitären Anlagen oder
Möbel in den Unterrichtsräumen möchte ich lieber kein Wort verlieren.
Es sind aber nur zwei der vielen Beispiele, die mich doch immer
wieder für mein fortschrittliches Studium in Deutschland sensibilisieren.
Und trotz allem halte ich das russische Bildungssystem für kein
schlechtes. Alle haben eine gute bis sehr gute Allgemeinbildung
und können zum Beispiel nicht nur ein Puschkingedicht aus dem Kopf
zitieren. Doch im Gegensatz zur deutschen Hochschulbildung wird
auf Selbstständigkeit und eigene Meinungsäußerung der Studenten
hier weniger Wert gelegt, was ich persönlich sehr schade finde.
Als besonders lustig habe ich es jedoch empfunden, dass die russischen
Studenten für ihre Mitschriften ein dünnes Schreibheft benutzen,
das sie auch problemlos in ihren kleinen Modetäschchen verstauen
können. Wenn ich da an meine dicken kopiengefüllten Aktenordner
in Deutschland denke, die ich im Rucksack zur Uni schleppe, werde
ich immer wieder neidisch...
©
Daniela Ließ
Unter meinen russischen Kommilitonen fühle ich mich
mit meinen 23 Jahren jedoch fast wie eine alte Frau, denn das Eintrittsalter
in die Universität liegt hier bei 18 Jahren. Die meisten Studenten
in den unteren Studienjahren wirken auf mich daher auch noch
sehr kindisch. Doch trotzdem wissen sie meiner Meinung nach die
Bildung mehr schätzen als die Studenten an staatlichen Universitäten
in Deutschland, denn die meisten zahlen hier viel Geld für ihr Studium.
Ich nehme gemeinsam mit den Studenten unter anderem
an Vorlesungen und Seminaren zur russischen Literatur- und Landesgeschichte
und zur Sprachwissenschaft teil und kämpfe mich durch das Studium
in der Fremdsprache. Inzwischen verstehe ich auch schon mehr als
„Guten Tag“ und „Auf Wiedersehen“ und glaube, zumindest langsam
sprachliche Fortschritte zu machen, auch wenn es oft Tage gibt,
die mich vom Gegenteil überzeugen wollen...
Viele Grüße aus dem fernen Osten,
Daniela Ließ.
Oktober 2005
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