Tramwai. © Daniela Ließ

6. Brief aus Nizhnij

Nach drei Monaten fühle ich mich in Nizhnij nun fast schon wie zu Hause. Um ehrlich zu sein, kenne ich mich hier inzwischen fast besser aus als in Berlin oder Potsdam.
Die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs ist für mich allerdings immer noch etwas ungewöhnlich. Verwöhnt von den westeuropäischen Verhältnissen habe ich hier eher das Gefühl, mich jedes Mal auf eine Abenteuerfahrt zu begeben, die immer wieder neue Überraschungen bereithält. Ich habe inzwischen nicht nur einmal die Erfahrung gemacht, dass auch der Verkehr wie das Leben in Russland von Glück und Schicksal abhängt.
Einen Nahverkehr mit Fahrplan, Hinweisschildern an den Haltestellen oder höchster Sicherheit für Passagiere gibt es hier nicht. Kurz gesagt, der öffentliche Personentransport der Stadt gestaltet sich ziemlich chaotisch, nervenaufreibend und ist absolut touristenunfreundlich.

Marschroutka © Daniela Ließ

Am schnellsten im Straßenverkehr ist man in Nizhnij mit den unzähligen Marschroutkataxis unterwegs. Diese Kleinbusse sind berühmt dafür, ihre Touren möglichst schnell abzufahren und werden daher von Passagieren bevorzugt, die wenig Zeit verlieren wollen. Auf ihren Fahrten spielen deswegen Ampelsignale oder Verkehrsregeln eher weniger eine Rolle. Das macht die Nutzung daher nicht ganz ungefährlich und provoziert nicht selten viele Unfälle. Die russischen Marschroutkas wären für das geordnete deutsche Verkehrssystem wirklich völlig undenkbar!

Marschroutka © Daniela Ließ

Als sehr angenehm empfinde ich jedoch den russischen Einheitsfahrpreis, der gegenüber dem kompliziert ausgeklügelten System in Deutschland unabhängig vom Fahrtziel ist. Da es hier generell keine Fahrkartenautomaten gibt, bezahlt man den Fahrschein im Bus. Wenn es keinen Verkäufer gibt, übernimmt der Fahrer diese Aufgabe und gibt Rückgeld und den Fahrschein heraus, während er gleichzeitig lenkt. Das Abenteuer lässt grüßen! Und wahrscheinlich erklärt das auch die Tatsache, dass in jedem Verkehrsmittel mindestens eine kleine Ikone als Schutzengel angebracht ist.

Flussbahnhof © Daniela Ließ

Ich bevorzuge hier meist die weniger spektakuläre Fahrt mit dem Trolleybus oder der Straßenbahn. Allerdings muss man dabei wesentlich mehr Fahrzeit und Unzuverlässigkeiten in Kauf nehmen. Außerdem sind die meisten Busse und Bahnen schon älteren Baujahres und klappern und holpern deshalb oft beängstigend laut durch die Straßen. Auch technische Defekte sind hier keine Seltenheit, so dass man als Fahrgast wesentlich mehr Nerven und Geduld als in Deutschland haben muss. Auch das bekannte Geschimpfe auf die Deutsche Bahn über die üblichen 5 bis 10 Minuten Zugverspätung kann ich inzwischen nur müde belächeln.

Trolleybusse © Daniela Ließ

Dafür ist das Schwarzfahren hier so gut wie unmöglich. Denn eine Charakteristik der Straßenbahnen und Trolleybusse sind die meist unfreundlichen Fahrkartenverkäuferinnen, die genau aufpassen, wer zugestiegen ist und streng abkassieren.
Eine weitere Besonderheit im Nahverkehr der Stadt ist die U-Bahn, die allerdings weniger prunk- und schmuckvoll als in St. Petersburg ist, was mich auf meiner ersten Fahrt schon ein wenig enttäuscht hat. Dafür bringt sie die Passagiere als schnellstes Transportmittel durch die sogenannten Arbeiterregionen der Stadt. Im Gegensatz zu Petersburg macht hier eine Ansage bei jedem Halt nicht nur freundlich darauf aufmerksam, wann die Türen schließen, sondern erinnert auch daran, keine Sachen in der Bahn zu vergessen. Mit der Zeit kann man diesen ewig gleichen Text allerdings mitsingen...

Elektritschka © Daniela Ließ

Für Fahrten außerhalb der Stadt nutzen die Einwohner den Zugverkehr. Vergleichbar mit den Regionalzügen in Deutschland fahren hier sogenannte Elektritschkas in die Vororte Nizhnijs. Vom Moskovkij Vokzal (Moskauer Bahnhof) aus bringen sie die Passagiere relativ zuverlässig und sicher in die Datschensiedlungen außerhalb der Stadt. Nicht nur durch den Blick auf die landschaftliche Umgebung lohnt sich eine Fahrt mit der Elektritschka, sondern auch durch das in meinen Augen typisch russische Gemeinschaftsgefühl unter den Passagieren. Während der Fahrt werden nicht selten laut lustige Geschichten erzählt oder man kann von den Köstlichkeiten aus verschiedenen Datschagärten probieren. Auch wenn sich die meisten Fahrgäste gar nicht kennen, fühlt man sich auf einer Fahrt doch wie in einer großen Familie.

M oskovskij vokzal. © Daniela Ließ

M oskovskij vokzal. © Daniela Ließ

Im Allgemeinen muss ich sagen, dass ich hier generell in allen Verkehrsmitteln weniger eine Ignoranz und Verschlossenheit unter den Passagieren wie in deutschen Bussen oder Bahnen spüre. Gerade trotz des unzuverlässigen und oft nervenaufreibenden öffentlichen Transports fühlt man während jeder Fahrt vielmehr, wie alle Fahrgäste durch Glück und Schicksal im russischen Verkehr vereint sind...

Viele Grüße nach Deutschland in die Adventszeit,
Daniela Ließ.

November 2005
Kommentare zur Weiterleitung an: redaktion@007-berlin.de

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