Neujahrsgruss. © Daniela Ließ

8. Brief aus Nizhnij

Mit dem 1. Dezember hat in Russland der Winter begonnen. Während der erste Schnee im Oktober noch eine echte Sensation war, ist die weiße Pracht inzwischen zum Alltag geworden und legt nicht selten den Verkehr lahm. Außerdem macht der Schnee einen Spaziergang durch die Stadt zu einer echten Rutsch- und Matschpartie.
Dennoch fühle ich mich hier in Nizhnij fast wie im Märchenland. Der zauberhafte Anblick der schneebedeckten Stadt lässt mich oft sogar die Kälte vergessen.

Bisher habe ich angenommen, dass Russen weitaus weniger kälteempfindlich als Deutsche sind. Doch inzwischen hat sich das als großer Irrtum herausgestellt. Ich war sehr erstaunt, als sich Anfang November bei noch etwa  plus fünf Grad Celsius bereits einige zitternd über die Kälte beschwert haben. Verwundert hat mich auch, dass die Russen im Gegensatz zu den Deutschen relativ früh eine Mütze tragen. Obwohl noch nicht mal Minusgerade waren, wurde ich damals nicht selten ermahnt, endlich eine „Schapka“ aufzusetzen. Bei derzeitigen Tagestemperaturen von ungefähr minus 10 Grad tue ich das nun natürlich freiwillig. Doch ich frage mich ernsthaft, wann bei den Russinnen eigentlich die Schmerzgrenze erreicht ist, sich den winterlichen Temperaturen entsprechend zu kleiden. Zwar führen die meisten Frauen jetzt mit Vorliebe ihren ganzen Stolz in Form extravaganter Pelzmäntel aus, doch noch immer sieht man viele Damen in kurzen Röcken und hochhackigen Schuhen auf der Straße. Dass das bei Schneematsch oder glatten Wegen wenig angenehm und vorteilhaft ist, scheint die weibliche Bevölkerung hier wohl anscheinend weniger zu stören.

Kreml . © Daniela Ließ

Es ist unverkennbar, dass das Aussehen für die Russinnen eine sehr große Rolle spielt. Mode, Schmuck und Kosmetik zählen für fast alle Damen zu den wichtigsten Themen im Alltag. In der Universität ist in der Regel eine Studentin auffälliger als die andere gekleidet. Dabei werden besonders markante Farben, hochhackige Stiefel und möglichst viele modische Accessoires bevorzugt. Was bezüglich des Aussehens bei Frauen in Deutschland als auffällig gilt, ist hier meiner Ansicht nach als normal einzustufen. Auch bei den älteren Damen gehören Nagellack, Lippenstift und Schminke fast schon pflichtgemäß zum äußeren Erscheinungsbild. Die zahlreichen Friseurläden und Kosmetikgeschäfte in der Stadt zeugen ebenso vom hochgeschätzten Mode- und Pflegebewusstsein der Russinnen.

Bei den Männern kann ich bezüglich des Aussehens im Allgemeinen zwei Gruppen unterscheiden. Auf der einen Seite gibt es die männliche Entsprechung der modebewussten Frauen, deren Kennzeichen Anzug mit Schlips (oder Stoffhose mit Pulli) sind und die meist schwarzen vorne spitz zulaufenden Schuhe. Andererseits trifft man unter der männlichen Bevölkerung aber auch das modische Gegenteil mit sportlich-legerem oder vergleichsweise „lumpenhaftem“ Aussehen. Was ich hier auch öfter beobachte, ist die scheinbare paradoxe Verbindung von einer auffällig schick gekleideten Frau, die Hand in Hand mit einem Mann im Jogginganzug durch die Straßen spaziert...

Wolga © Daniela Ließ

Bezüglich des Verhaltens in der Öffentlichkeit ist es für die Herren hier übrigens üblich, ihr Bier auf der Straße oder auf dem Weg zur Arbeit bzw. nach Hause zu trinken. Ebenso gehört das Spucken auf die Straße zu den hier normalen typischen männlichen Verhaltensweisen.
In der Öffentlichkeit zeigen sich die Männer gegenüber den Frauen meiner Meinung nach jedoch aufmerksamer als in Deutschland. So ist es hier üblich, einer Frau die Tür aufzuhalten, ihr beim Ausstieg aus der Straßenbahn zu helfen oder die Gattin oder Freundin öfters mit Blumen zu beglücken. Während die deutsche emanzipierte weibliche Bevölkerung immer mehr auf ihre Selbstständigkeit, Gleichberechtigung und Unabhängigkeit pocht, spüre ich, dass in der russischen Gesellschaft allerdings noch immer eine hierarchische Struktur vorherrschend ist. Dies zeigt sich zum Beispiel daran, dass für Frauen das Betreten einer Kirche nur mit Kopftuch gestattet ist. Diese Regel wird hier sogar sehr streng beachtet und gilt im Gegensatz zu den Kirchen in Petersburg ausnahmslos auch für Touristinnen.

Denkmal Dobrolujbov. © Daniela Ließ

Während in Deutschland ja bekanntlich bereits Ende Oktober mit den Vorbereitungen für das Weihnachtsfest begonnen wird, ist die Situation hier wesentlich entspannter. Erst vor kurzem wurde die Stadt mit Lichterketten und Jolkabäumen geschmückt. Wie mir scheint, erinnert das die meisten Russen weniger an die anstehenden Festtage, sondern vielmehr an die Tatsache, dass schon wieder ein Jahr vorüber ist. In Russland feiert man Weihnachten erst am 7. Januar. Der Jahreswechsel wird dafür wie das deutsche Weihnachts- und Silvesterfest mit Geschenken und Feuerwerk begangen. Der 24. Dezember ist demnach hier ein ganz normaler Samstag, den ich mit den letzten Vorlesungen des Semesters in der Uni verbringen werde.
Ehrlich gesagt ist es für mich auf der einen Seite sehr erholsam, einmal für ein Jahr dem deutschen kommerziellen Geschenkewahn und Weihnachtsstress zu entfliehen. Auf der anderen Seite ist das Heimweh an diesen Tagen jedoch etwas größer als sonst. Aber dafür  kann mich hier über zwei Wochen Semesterferien freuen und erwarte schon mit Spannung die russischen Festtage.

Wolga. © Daniela Ließ

Ich wünsche allen Lesern ein wunderschönes Weihnachtsfest und einen guten Start in ein glückliches, erfolgreiches Jahr 2006.

Viele Grüße aus Nizhnij,
Daniela Ließ.

Dezember 2005
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