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Berlin-Moskau / Moskau-Berlin 1950 - 2000


 konzept   raumtexte und raumpläne
   blick in die ausstellung

Anmerkungen der deutschen Kuratoren

Die Ausstellung ist in mehrfacher Hinsicht ein Wagnis. Ihr Thema, der kulturelle Dialog zwischen Deutschen und Russen über die Kunst von der Mitte des vorigen Jahrhunderts bis zur Gegenwart, könnte komplexer, schwieriger zu durchleuchten, politischer im historischen Kontext und zugleich aktueller kaum sein. Sie hat es, anknüpfend an ihre Vorgängerin über Berlin und Moskau in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts, mit der Zeit des kalten Krieges zwischen Kommunismus und Kapitalismus zu tun, mit der deutschen Teilung und der Berliner Mauer, mit Glasnost und Perestroika, aber auch mit der zunehmend globalen, als latent bedrohlich empfundenen Welt von heute. Darüber hinaus ruft die Ausstellung in Erinnerung, was die ehemaligen Gegner verbindet: die Erfahrung totalitärer Systeme und das Trauma des von den Deutschen entfesselten und von den Russen als "Großer vaterländischer Krieg" siegreich beendeten Zweiten Weltkriegs.

Wer sich an "Berlin-Moskau / Moskau-Berlin 1900-1950" erinnert, erwartet wahrscheinlich, daß die zweite Ausstellung kontinuierlich dort anknüpft, wo die erste aufgehört hat. Doch schon während der ersten Gesprächsrunde der Kuratoren wurde deutlich, daß der bewährte, auf die beiden Metropolen zugeschnittene Handlungsrahmen für das Anschlußprojekt nicht ausreicht. Denn anders als nach dem ersten Weltkrieg hat es nach dem zweiten zwischen Moskau und dem erst viergeteilten und dann bis Ende der Achtziger Jahre zweigeteilten Berlin zunächst kaum kulturelle Beziehungen gegeben. Und während auf der russischen Seite Moskau für die kulturelle Entwicklung verantwortlich war, behauptete sich die Westhälfte Berlins neben der Hauptstadt der DDR im Osten trotz Blockade und Mauer als kultureller Vorposten der Bundesrepublik sowie, allen voran, der amerikanischen Schutzmacht. Es war also der Ost-West-Konflikt und dessen Überwindung generell, von dem die kulturellen Beziehungen zwischen den beiden Städten abhingen. So stehen Berlin und Moskau je pars pro toto für ihre Länder, wie Pole einer deutsch-russischen Ellipse mit internationalen Tangenten.

Bei den ersten Gesprächen der Kuratoren stellte sich heraus, daß es nicht leicht sein würde, einen ausstellungsdidaktisch brauchbaren kulturhistorischen Diskurs zu entwerfen, der beiden Seiten gerecht werden könnte. Sowjetische und postsowjetische Geschichtsmetaphern hätten sich nicht ohne weiteres mit dem Selbstverständnis des Westens in Einklang bringen lassen. Zumindest hätten die Kuratoren erheblich mehr Zeit gebraucht, um Begriffe zu klären, gegenseitige Vorurteile zu entkräften und dann auch Einvernehmen über die Berechtigung von Differenz herbeizuführen. Man war sich zunächst nur einig, die Zeit nach dem Fall der Berliner Mauer nach übereinstimmenden Maßstäben zu beurteilen und darüber hinaus einige Künstlerinnen und Künstler aus Berlin und Moskau mit neuen Arbeiten zu beauftragen. Vielleicht hat diese Entscheidung dazu beigetragen, daß die Kuratoren wiederholt ihre Absicht bekräftigt haben, grundsätzlich eine integrierte Ausstellung vorzubereiten, statt, was sonst unvermeidlich gewesen wäre, den deutschen und den russischen Teil in getrennten Abschnitten zu zeigen.

Zu den Erwartungen, mit denen die Kuratoren sich auseinanderzusetzen hatten, gehörte auch die Vorstellung eines interdisziplinär konzipierten Panoramas, in dem die verschiedenen Gattungen der Künste im Querschnitt auf den Zeitgeist verweisen, der in ihnen Gestalt angenommen hat. Gegen ein solches Konzept machten die deutschen Kuratoren allerdings schon im Anfangsstadium der Planung Bedenken geltend. Was ihnen vorschwebte, war eine Ausstellung "von der Kunst aus", konzentriert auf die Medien und Gattungen der bildenden Künste. Weder hätten sie sich für eine Inszenierung mit dem epochalen Flair eines Gesamtkunstwerks einsetzen wollen noch an eine kulturhistorische Reportage gedacht, wie sie in ein Museum für Geschichte passen würde.

Aber die Bedenken hatten auch praktische Gründe. Bei den begrenzten personellen und finanziellen Kapazitäten des frisch zusammengestellten Teams wäre es in der Kürze der Zeit nicht möglich gewesen, die Ausstellungsbeiträge aus den verschiedenen Bereichen mit der gebotenen Sorgfalt zu erarbeiten und mit den russischen Partnern abzustimmen. Es wurde deshalb beschlossen, im zweiten Band der geplanten Publikation besonders auf die in der Ausstellung nicht vertretenen Disziplinen der Architektur, der Stadtplanung, des Films, der Literatur, des Theaters und der Musik einzugehen, wobei man hoffte, vielleicht noch ein Bündel für ein Satellitenprogramm schnüren zu können.

Der zweite Band enthält außerdem eine Reihe historisch politischer und ideologiekritischer Texte von allgemeinem Interesse sowie eine reich illustrierte kultur- und zeitgeschichtliche Chronik und kommt damit den Erwartungen an eine aktuelle Einführung in die Geschichte der kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland entgegen. Im Übrigen bietet auch die Ausstellung eine chronologische Orientierungshilfe. Ein inszeniertes Archiv aus zweihundert sowohl dokumentarisch bemerkenswerten als auch ästhetisch überzeugenden Fotographien bildet im direkten wie im übertragenen Sinn einen Korridor der Erinnerungen.

Das Prinzip "von der Kunst aus", dem die Ausstellung verpflichtet ist, beschränkt sich keineswegs, wie man befürchten könnte, auf ein exklusiv fachliches Verständnis seines Gegenstandes. Es impliziert mediale, repräsentative, sozial- und kulturkritische, institutionelle und selbstreferentielle Aspekte, kurz, eine Vielzahl von Voraussetzungen, unter denen Kunstwerke hergestellt und wahrgenommen werden. Das System Kunst ist selbst ein Indikator des Zeitgeistes. Gerade wenn man die russische Entwicklung einbezieht, wird an der Programmatik, den Avantgarden und Revisionen, Innovationsschüben und Dekonstruktionen der visuellen Künste deutlich, welche außerordentlichen kulturellen Veränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stattgefunden haben.

Sie beginnen mit den bekannten Auseinandersetzungen zwischen Traditionalisten und Modernisten, die, denken wir an Inquisition, Zensur, Ausgrenzung oder Unterdrückung, manchen bitteren Nachgeschmack hinterlassen haben. Sie führen im Osten nach vielen Jahren zur Aufhebung der staatlich verordneten Unterscheidung von "offizieller" und "inoffizieller" Kunst. Sie bewirken, daß im Westen die Grenzen der bildnerischen Gattungen in Richtung Multimedia, Kinetik, Environment und Installation überschritten werden. Was man "Werk" nannte, wird durch Konzept und Aktion seiner materiellen Konsistenz und Dauer beraubt. Das Temporäre verdrängt das Museale. Subkulturelle Strömungen unterlaufen hochkulturelle Konventionen. Fotographie, Design und Film machen den hohen Künsten ihren Rang streitig, während massenkulturelle Bilder, Objekte, Aufnahme- und Reproduktionstechniken die Lofts und Ateliers erobern und von da aus in die Museen für zeitgenössische Kunst gelangen.

Im Rückblick auf dieses halbe Jahrhundert Kunst stellte sich die Frage, wie denn das Kaleidoskop der Überlieferungen vermittelt werden könnte, ohne die historische Divergenz der Kulturen in der Sowjetunion, der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland einschließlich West-Berlins zu ignorieren. Dabei war den Kuratoren bewußt, daß ihre Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eigentlich als Arbeit an der Gegenwart zu verstehen ist. So lag der Gedanke nahe, die Ausstellung prinzipiell "von heute aus" zu konzipieren. Unter dieser Voraussetzung verlor die übliche Methode einer kunsthistorischen Nacherzählung nach Dekaden, die im Heute endet, an Verbindlichkeit. Vielmehr sollte es darauf ankommen, das gemeinsame Interesse an den heterogenen Entwicklungen punktuell und, im genauen Wortsinn, retrospektiv auszuloten. Zugleich war damit die Möglichkeit gegeben, bei der Auswahl gegenwärtig aktueller Kunst die Präsenz der Vergangenheit zu berücksichtigen.

Es blieb zu überlegen, was uns heute bewegt, wenn wir versuchen, die kollektiven und individuellen Erfahrungen, die in den visuellen Künsten überliefert worden sind, miteinander zu vergleichen und in ihrer Verschiedenheit verständlich zu machen. Während einer mehrtägigen Klausur in Zermützel, die der Ferdinand Möller Stiftung zu verdanken war, skizzierten die Kuratoren eine Reihe von Parametern, die solche vergleichenden Betrachtungen ermöglichen sollten. Dabei stellte sich ein Gefälle nach Generationen heraus, das ebenso die Ausstellung wie ihr Publikum betrifft, wobei die Generationen eher nach Erfahrungen als nur nach Altersgruppen zu beschreiben sind.

Die schon historische Generation ist die der Überlebenden und Heimkehrer des Zweiten Weltkriegs. Sie behauptet sich in existentieller Auseinandersetzung mit dem politisch wie ästhetisch Erhabenen. Die mittlere Generation verabschiedet sich von den Ritualen der großen Trauer. Erst will sie reformieren, Kritik üben, sich dem Alltag zuwenden und intervenieren. Dann verfolgt sie den Abbau ideologischer Doktrinen, analysiert den ererbten "Hang" zum Gesamtkunstwerk und riskiert es, die Schleusen eines aufgestauten Nationalgefühls zu öffnen. Die letzte ist eine Generation von globaler Urbanität. Sie sympathisiert mit Attac, rechnet mit der Macht der Phantasmen, strebt nach Transparenz und ergötzt sich gleichwohl an aufgeblähten Klischees von abgestandenem Pathos.

Die Parameter, die sich während der Gespräche der Kuratoren über die Generationen beider Seiten herauskristallisierten, liegen der Gliederung der Textbeiträge zu diesem Katalog zugrunde. Sie stellen den Versuch dar, Anhaltspunkte für eine vergleichende thematische Interpretation der Kunst in Ost und West zu gewinnen, ohne einen Anspruch auf Forschung im Sinne der Geschichtswissenschaften zu erheben. Kurze einführende soziokulturelle Texte zu den Parametern werden durch knappe, auf je eine Druckseite beschränkte Studien zu künstlerischen Tendenzen und Gruppierungen oder zu einzelnen Künstlern ergänzt. So ist eine abwechslungsreiche Anthologie entstanden, die erkennen läßt, von welchen, manchmal recht verschiedenen Voraussetzungen die deutschen und die russischen Autorinnen und Autoren ausgehen.

Parallel zu den Texten der Parameter sind Konstellationen von Kunstwerken für die Räume im Gropiusbau erarbeitet worden, auf die sich grosso modo auch die Bilderblöcke des Katalogs beziehen. Durchaus darauf angelegt, möglichst den Parametern anschaulich zu entsprechen, erforderte die Zusammenstellung der Kunstwerke, wie nicht anders zu erwarten war, eine erweiterte kuratorielle Dramaturgie. Schon bei der Auswahl der Exponate spielten zusätzliche Kriterien eine wichtige Rolle, zum Beispiel die institutionelle Position der Künstlerinnen und Künstler im jeweiligen System, ein ausgesprochener oder zu entdeckender Bezug zur Kunst des anderen Landes, der Kontext Berlin oder Moskau und selbstverständlich die in jedem einzelnen Fall qualitativ abwägende Beurteilung der Kuratoren. Zu beachten waren außerdem die räumlichen und ausstellungstechnischen Bedingungen vor Ort. Doch vor allem erwies sich die Konstellation selbst als eine Medium von beachtenswerter Brisanz.

Kunstausstellungen bestehen bekanntlich immer aus einer Folge vorübergehender, teils zufälliger, mehr oder weniger gefällig arrangierter, manchmal didaktischer Kombinationen sonst nicht benachbarter Exponate. Eine Konstellation geht, wenn sie denn gelingt, darüber hinaus. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf einen Zusammenhang, den der Vergleich zwischen den einzelnen Kunstwerken ebenso heraufbeschwört wie er sie erschließt. Der Anwendung dieses hermeneutischen Prinzips kam nun der Umstand entgegen, daß die Kuratoren vereinbart hatten, an "Berlin-Moskau" möglichst unvoreingenommen heranzugehen, eben "von heute aus" statt auf eingefahrenen Gleisen. Indem sie riskierten, den Kunstwerken die gewohnte affirmative Einordnung bis zu einem gewissen Grade vorzuenthalten und sogar Perioden zu überspringen, eröffneten sie zugleich neue Möglichkeiten der Interpretation. Ob russisch-russisch, russisch-deutsch, deutsch-russisch oder deutsch-deutsch: die Parameter im Kopf und die Kunst vor Augen, ergaben sich hier und da ganz unerwartete Konstellationen. Fast fragt man sich, warum uns die Tugend der Kunstkritik nicht schon früher von den Nöten der Koexistenz befreit habe.

Jürgen Harten, Angela Schneider, Christoph Tannert

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