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Leben im Wohnheim Multi-Kulti

     - ein Erfahrungsbericht von Claudia Jutte,
       Studentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder

Im Radio dudelt: "...zawsze na rmf/fm..." Anstelle der Nachrichten erklingen nur unverständliche Zisch- und R-Laute. Wo bin ich hier bloß gelandet? Habe ich mich gefragt, als ich letzten Herbst nach Frankfurt/Oder in das Studentenwohnheim der August-Bebel-Straße gezogen bin. Was lässt sich sagen über das Zusammenleben an einem Ort, wo der Ausländeranteil, gerechnet auf seine Bevölkerungsdichte, höher als in Berlin ist? Es sind ja meist schon dann Probleme geschaffen, wenn Deutsche, die sich vorher noch nicht kannten, eine neue WG gründen. Betrachtet man die verschiedenen Volksgruppen aus Ost und West, Nord und Süd unseres Landes, scheitert die Verständigung bereits an Grundlegendem, wie beispielsweise die Frage nach der Uhrzeit: ist Viertel drei nun drei Viertel vor drei oder doch Viertel nach zwei? Es gehört schon viel Mut dazu für einen westdeutschen Bundesbürger östlicher als Berlin in die ehemaligen DDR-Gefilde vorzudringen, wobei Äußerungen bestimmter Politiker dabei nicht sonderlich unterstützend wirken. Aber Studenten sind ja bekanntlicherweise experimentierfreudig und so kommt es, dass sich immer mehr zu genau diesem Schritt trauen. Ausgerüstet mit einem "Ostdeutsch-Deutsch"-Wörterbuch treten sie die beschwerliche Reise gen Osten an und besiedeln auch unser Wohnheim. Gebürtige Münchner berichten dann beispielsweise von ersten Begegnungen mit dem ostdeutschen Phänomen eines Schlagloches und freuen sich, dass bei der allmorgendtlichen Fahrradfahrt zur Uni die Antishock Funktion ihrer CD-Spieler endlich zum Einsatz kommen kann. Angelockt werden diese Studenten aber nicht nur durch derartige Eigenheiten des "Wilden Ostens", sondern ebenso durch die internationale Vielfalt an der Europa Universität Viadrina und die Möglichkeit fremde Kulturen und deren Sprachen kennen zu lernen.

Großer Beliebtheit erfreut sich das Erlernen der polnischen Sprache, was aufgrund des kurzen Fußmarsches über die Oder zu Frankfurts östlicher Nachbarstadt Slubice zu erklären ist. Besonders dann, wenn man nach einem preisgünstigen Friseurbesuch Kahlschlag nicht nur in der Literatur, sondern auch schon mal auf seinem Kopf erlebt hat oder sich nach seinem ersten Besuch in einem polnischen Solarium über Hautkrebsvorsorge Gedanken macht, wird die Kenntnis dieser slawischen Sprache zum nächstangestrebten Ziel erkoren. Auch Russisch-Kurse werden zahlreich belegt. Leider sind es aber genau diese Sprachen, bei denen die höchsten Durchfallquoten deutscher Studenten zu verzeichnen sind. Die einfachste Möglichkeit dieses Problem zu lösen, ist per Aushang oder entsprechender Party einen Tandempartner, der die russische Sprache beherrscht, kennenzulernen. So können beide etwas lernen und nicht zuletzt ist dies auch ein optimaler Weg zur Völkerverständigung und -vermischung, wie etliche grenzüberschreitende Liasionen und Freundschaften beweisen. Ich musste mich glücklicherweise gar nicht erst auf die Suche nach einem solchen Partner begeben, meine ukrainische Mitbewohnerin wurde beim Tag ihres Einzuges in unsere 3er WG zu meiner privaten Russischlehrerin und hauseigenem Lebend-Wörterbuch, ob sie wollte oder nicht. Von ihr habe ich in meinem ersten Jahr als Studentin bereits viel über die russische Sprache hinaus gelernt: zum Beispiel, dass "Blümchen auf dem Fensterbrett spazieren gehen", dass nicht wie bei uns üblich ein Schal, sondern mehrere Tage lang getragene Socken Halsschmerzen heilen oder dass Essigumschläge Fieber senken können. Ihre Anwesenheit wirkte sich ebenso auf meine Ess- und Trinkgewohnheiten aus: dank ihr kenne ich jetzt den geschmacklichen Unterschied zwischen Wodka mit Peperoni, mit Honig oder Wodka aus Weizen sowie die verschiedensten Einsatzmöglichkeiten von Knoblauch.

Doch das internationale Leben im Wohnheimkomplex August-Bebel-Straße ist nicht nur für die Deutschen bereichernd, selbstverständlich müssen die ausländischen Studenten die Angewohnheiten und Regeln der Einheimischen, mit denen sie gnadenlos konfrontiert werden, akzeptieren und verstehen lernen. Am abschreckendsten sind dabei wahrscheinlich die ersten beiden Wochen im fernen Deutschland. Bei den zahlreichen Behördengängen kommen sie meist zu der Ansicht, "Gebühren" sei das am meisten gebrauchte Wort in unserem Bürokratenstaat. Auch die anfängliche Ungeselligkeit und Steifheit der deuschen WG-Mitbewohner erschweren das Einleben in Frankfurt. Diese und viele andere Ansichten über Deutsche werden jedoch im Laufe der Semester durch gemeinsame Erlebnisse, Partys und das Zusammenleben im Wohnheim meist abgebaut. Andererseits werden Vorurteile, mit denen sie ihr Studium begannen, gar nicht erst bestätigt. Ein Beispiel dafür ist die chronische Unpünktlichkeit vieler Studenten, die beweist, dass diese deutsche Tugend keineswegs auf alle Bevölkerungsteile zutrifft. Begründet ist das Zuspätkommen wahrscheinlich in der ausgeprägten Partykultur in unserem Wohnheim, die je nach Witterung auf dem Hof oder in den jeweiligen WGs zu jedem Anlass bereitwillig ausgelebt wird. Welcher Nationalität der Gastgeber angehört, lässt sich aufgrund der sozialistischen Plattenbauweise auch dann ermitteln, wenn die Fete drei Blöcke weiter stattfindet. Dröhnt es zu später Stunde "Sto lat, sto lat" weiß man, dass ein Pole ein Jahr älter geworden ist, die Russen singen bei Geburtstagen bekanntlicherweise ihr "ja igraju, na garmoschke..." und deutsche Partys erkennt man an dem Dauerbrenner "Moskau, Moskau! Wirf die Gläser an die Wand!..." Natürlich ist auch das Programm unseres Studentenklubs an die kulturelle Vielfalt des Publikums musikalisch angepasst: dessen Angebot reicht von Russendisko mit DJ Karandasch, lateinamerikanisch angehauchten Beachpartys und Boogie Nights bis hin zu der berüchtigten Disko Polska.

Das kulturwissenschaftliche Lehrangebot an der Universität ist analog zum Freizeitleben der Studenten ausgerichtet auf die internationale Herkunft der Seminarteilnehmer, deren Anwesenheit in den Veranstaltungen interessante Einblicke in das Denken und System fremder Kulturen zulässt. Aufgrund der Grenznähe zu Polen immatrikulieren sich besonders viele, die in irgendeiner Form mit diesem Land verbunden sind. Erstaunlich hoch ist dabei der Anteil von zweisprachigen Studenten, die als Kinder polnischer Immigranten nach Deutschland kamen. Sie stecken in einem Zwiespalt: hier in Deutschland aufgewachsen, aber gemäß polnischer Traditionen und Bräuche erzogen, können sie sich nicht als Deutsche betrachten. Im Herkunftsland ihrer Eltern aber fühlen sie sich als Außenseiter und Verräter behandelt. Ob dies wirklich an dem ist, oder ob sie Opfer ihrer imaginären Verschwörungstheorien sind und vieles andere mehr, lässt sich in Seminaren wie "Identitäten" oder bei interkulturellen Kommunikationsspielen erörtern. Die Fakultät der Kulturwissenschaftler wird deshalb in juristischen und betriebswissenschaftlichen Kreisen oft als große Selbsthilfegruppe belächelt. Was keiner von ihnen zugeben würde, ist, dass sie selber gerne zu uns gehören wollen. Von ihren kulturwissenschaftlichen Mitbewohnern mit aller Kraft unterstützt, entschließen sich jedes Semester immer wieder unglückliche BWL-er und Rechtswissenschaftler in die herzlichen Kreise der "KuWis" aufgenommen zu werden, wo sie sich nicht mehr schämen brauchen, wenn sie beim Uni-Sommerfest mit der fakultätseigenen Band zu dem Hit "Kuwi-Star" mitsingen. >>>>> Hörprobe

Claudia Jutte

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