Schlafstaette auf Herd. © Daniela Ließ

18. Brief aus Nizhnij

Nach acht Monaten kann ich behaupten, inzwischen einen sehr guten Einblick in das Leben in Russland bekommen zu haben. Durch meine Unterkunft in einer russischen Gastfamilie erlebe ich das Land zu meiner Freude nicht nur aus Sicht einer Studentin, sondern kann an eigenem Leibe nachempfinden, wie Russen wohnen.

Hochhäuser. © Daniela Ließ

Wie ich festgestellt habe, spiegeln sich die großen sozialen Unterschiede der Bevölkerung auch in ihrer Wohnsituation wider. Ein typisches Beispiel dafür sind die neumodernen Villen der „Neureichen“, die im kompletten Gegensatz zu den alten, meist halb verfallenen Holzhäusern im Stadtzentrum bzw. den großen, grauen Plattenbausiedlungen stehen.
Das Straßenbild in Nizhnij ist außerdem durch die Baugeschichte der Stadt geprägt, die Altes und Neues nicht immer ganz passend zusammenführt hat. Ich finde es sogar etwas geschmacklos, dass zum Beispiel heute eine Kirche inmitten von Hochhäusern steht oder von einem neumodernen Einkaufszentrum mit lauter Diskomusik umgeben ist.

Uspenksij Kirche. © Daniela Ließ

Das Baugeschehen in Nizhnij ist sehr rege ausgeprägt und konzentriert sich vor allem auf die Ausweitung der Plattenbausiedlungen. Fast überall in der Stadt hängen Reklametafeln, die über die Angebote käuflicher Wohnräume informieren und damit zeigen, dass da ein großer Bedarf zu bestehen scheint. Die Wohnungen der Russen sind überwiegend Privateigentum und werden meist auch von Generation zu Generation weitergegeben. Bei Neukäufen ist es heutzutage jedoch üblich, eine Wohnung im komplett leeren Zustand zu erwerben. Außerdem gibt es die Praxis, dass viele ihr neues Zuhause schon bezahlen müssen, obwohl das entsprechende Hochhaus dafür noch nicht mal steht.

Baustelle. © Daniela Ließ

Bis auf die prunkvollen Stadtvillen oder einige alte Holzhäuser sind Eigenheimsiedlungen in Nizhnij kaum anzutreffen. Etwa 70 Prozent der Einwohner wohnen in den immer größer werdenden Plattenbausiedlungen, die außerhalb vom Zentrum reine „Schlafstädte“ darstellen. Auf den ersten Blick sehen die älteren der dort oft eng stehenden Häuser von außen meist etwas erschreckend aus. Die Wohnungen drinnen sind jedoch nicht selten sehr gemütlich und mit Mikrowelle, Waschmaschine, Wasserkocher, Stereoanlage und meist mehr als einem Fernseher auch oft erstaunlich gut sowie komfortabel ausgestattet.

Hochhäuser. © Daniela Ließ

Am typischsten für ein Zuhause nach russischer Art ist in meinen Augen die Sitte, dass fast alle Russen ihren Teppich zusätzlich an der Wand hängen haben sowie ihr Geschirr in der Küche in angebrachten Halterungen an der Wand oder im Schrank abtropfen lassen. Außerdem bevorzugen viele einen Diwan zum Schlafen, der tagsüber als Sitzcouch dient, so dass oft das Wohn- gleichzeitig als Schlafzimmer dient. Das liegt zum Großteil daran, dass nicht selten viele Menschen auf engem Raum leben. Aus Kostengründen ist es in Russland üblich, dass die Kinder in der Regel lange bei ihren Eltern wohnen und im Vergleich zu Deutschland erst relativ spät ausziehen. In Nizhnij gibt es bis heute sogar noch ein paar „Kommunalkas“, bei denen sich mehrere Familien eine Wohnung teilen. Im Sinne dieser Wohngemeinschaften ist es für russische Haushalte üblich, dass Dusche und Toilette getrennt untergebracht sind. Typisch für die Wohnungen der Russen sind außerdem die in Flur, Bad oder Küche gespannten Leinen zum Wäschetrocknen sowie der meist überdachte Balkon, der größtenteils als Abstellkammer dient.

Teppich. © Daniela Ließ

Eine Besonderheit für das Wohnen in Russland ist die zentral geschaltete Heizung, die sich in der Regel weniger nach den Außentemperaturen sondern mehr nach dem Kalender richtet. Vor dem 15. Oktober wird im europäischen Teil des Landes unabhängig vom Wetter in der Regel kaum ein Heizkörper warm. Dieser lässt sich außerdem nicht regulieren, da keine entsprechende Einrichtung dafür angebracht ist. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass es im Juli und August kein warmes Wasser gibt, da die Rohre für den Winter überprüft und repariert werden. Allerdings gehören Wasser- oder auch Stromausfall nicht nur im Sommer zum Wohnen in Russland häufiger mit dazu.

Küche. © Daniela Ließ

Das Leben in Nizhnij unterscheidet sich jedoch deutlich von dem der Einwohner in einem Dorf. Je weiter man sich von der Stadtgrenze entfernt, desto mehr bekommt man den Eindruck, die Zivilisation zu verlassen bzw. durch die Zeit in ein altes Russland zu reisen. Die russischen Dörfer liegen meist viele Kilometer voneinander entfernt und bestehen zum Großteil aus Holzhäusern. Durch die härteren Witterungsbedingungen sind die wenigsten von ihnen äußerlich im besten Zustand. Drinnen sind sie meist sehr schlicht und zweckmäßig, aber trotzdem gemütlich eingerichtet. Für die Wärme im Winter sorgt neben der Heizung ein großer Ofen, auf dem man nachts auch schlafen kann. Die Leitungen zur Gasversorgung verlaufen auf den Dörfern üblicherweise in langen meist gelben oder blauen Rohren in etwa 3 Meter Höhe außerhalb der Häuser.

Altes Haus im Stadtzentrum. © Daniela Ließ

Die Dorfbewohner gehören fast ausschließlich der älteren Generation an und leben von den bescheidenen Erträgen ihres Gartens bzw. der Landwirtschaft. Besonders im Winter schätze ich das Dasein auf dem Lande als sehr hart ein, da viele fast wie Einsiedler leben und von dem modernen, komfortablen Leben im Zentrum einer russischen Großstadt nur träumen können...   

Viele Grüße aus dem schönen Russland,
Daniela Ließ

Mai 2006
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