Veteranen. © Daniela Ließ

19. Brief aus Nizhnij

Bei wohltuendem Sonnenschein und Temperaturen bis zu 20 Grad Celsius genieße ich derzeit den Frühling in Nizhnij. Es ist wie Balsam auf der Seele, nach dem langen Winter die Natur wieder erwachen zu sehen und mit den Russen die Freude auf die beginnende warme und grüne Jahreszeit zu teilen.

Im Kreml. © Daniela Ließ

Die Feierlichkeiten rund um den 9. Mai – den Tag das Sieges – passten demnach sehr gut in die momentan heitere und fast schon sommerliche Stimmung in der Stadt mit dem Triumph über das Ende des Winters.
Bisher bin ich davon ausgegangen, dass der Jahreswechsel im Reigen der Feiertage in Russland das höchste Fest darstellt, doch mittlerweile schätze ich die Bedeutung des 9. Mai viel höher für das Volk ein. An diesem Tag feiert man in Russland sowie in den anderen ehemaligen Mitgliedstaaten der Sowjetunion das Ende des zweiten Weltkrieges und den gemeinsamen Sieg über das faschistische Hitlerdeutschland.

Plakat. © Daniela Ließ

In Nizhnij ist der 9. Mai zu einem wahren Volksfest ausgeartet. Es gab eine große, prunkvolle Militärparade zu sehen, die mit einer feierlichen Kranzniederlegung am ewigen Feuer im Kreml endete sowie viele andere öffentliche Ansprachen, Veranstaltungen und Konzerte. Nach alter Tradition wurde an die Einwohner sogar echtes Frontessen kostenlos verteilt (eine Schüssel Buchweizengrütze mit einer Scheibe Brot).

9. Mai. © Daniela Ließ

Neben den derzeit dienenden Soldaten standen an diesem Tag besonders die Kriegsveteranen im Mittelpunkt, die in alter Uniform stolz ihre unzähligen Orden auf der Brust präsentierten und mit vielen Blumen, Glückwünschen und Dankesworten bedacht wurden. Mit einer traditionellen Schweigeminute wurde landesweit allen Opfern gedacht und der Feiertag am späten Abend  wie jedes Jahr mit einem großen Feuerwerk beendet. Im Fernsehen liefen den ganzen Tag fast ausschließlich Kriegsfilme sowie Bilder aus Moskau, die die pompösen Feierlichkeiten in der russischen Hauptstadt zeigten. (Als besonderer Höhepunkt wurde übrigens in diesem Jahr auf dem Roten Platz bei der Festparade die Nationalhymne zum ersten Mal a capella von 6000 Soldaten gesungen.)
Es hat auf mich einen großen Eindruck gemacht, diesen besonderen Feiertag in Russland zu erleben, denn er hat mir noch deutlicher gezeigt, wie aktuell der Zweite Weltkrieg hier bis heute ist. Andererseits ist mir dabei sowie in Gesprächen mit Russen aber auch bewusst geworden, wie verschwiegen mit diesem Thema in Deutschland umgegangen wird und bis heute so viele Fragen unbeantwortet sind.

Frontessen. © Daniela Ließ

Hier in Russland habe ich an diesem Tag, ehrlich gesagt, zum ersten Mal wirklich begriffen, welche Auswirkungen der Krieg auf dieses Land und die Menschen hatte. Die Zahl der Todesopfer wird heute mit über 27 Millionen angegeben. Fast jede russische Familie ist davon betroffen und hat Angehörige verloren. Besonders einschlägig ist für mich auch die Tatsache, dass der Hauptteil der Kämpfe auf russischem Boden stattfand und unfassbare Zerstörungen und Verluste zur Folge hatte. Als einige der Hauptgründe des Sieges gelten zweifellos die hohe Mobilisierung und der Zusammenhalt des Volkes der ehemaligen Sowjetunion sowie dessen grenzenloser Mut und beeindruckende Entschlossenheit für die Verteidigung ihres Vaterlandes zu kämpfen.

Föderalversammlungdes N.N. oblast. © Daniela Ließ

Wer sich dies alles vor Augen hält, wird verstehen, warum der 9. Mai für die Russen so eine große Bedeutung hat und ihren ausladenden Feierlichkeiten weniger Übertriebenheit zuschreiben. Allerdings konnte ich an diesem Tag aber auch bereits deutlich den Wandel der Zeiten erkennen. Ich bin mir sicher, dass mit dem Ableben der Veteranen und Zeitzeugen des Krieges die nachfolgenden Generationen in Russland zunehmend mehr Abstand zu den geschichtlichen Ereignissen bekommen werden und der kommerzielle, neumoderne  Volksfestcharakter des Feiertages damit verstärkter in den Mittelpunkt gerückt wird.
Obwohl ich meiner Generation überhaupt keine Schuld an dem Krieg zuweise, habe ich mich mit meiner Nationalität unter den Russen an diesem Tag trotzdem wahrscheinlich zum ersten Mal etwas unwohl gefühlt.

Zusammenfluss. © Daniela Ließ

In diesem Zusammenhang erscheint es mir sogar verwunderlich, welche gute Meinung die Russen heute über Deutschland haben und wie problemlos ich in diesem Land aufgenommen wurde. Aber daran ist deutlich zu erkennen, dass die Beziehung zwischen den beiden Ländern heute nach 61 Jahren Kriegsende zum Glück eine ganz andere ist.

Allgemein ist das Thema Ausländerfeindlichkeit allerdings trotzdem auch in Nizhnij aktuell. Ich persönlich hatte in der Hinsicht bisher noch keine Probleme. Während meines Aufenthaltes gab es jedoch bereits einige Anschläge auf andersfarbige Studenten und sogar zwei Todesopfer, die deutlich werden lassen, dass nicht unbedingt alle Ausländer in Russland willkommen sind. 

Viele Grüße aus dem schönen Nizhnij,
Daniela Ließ

Mai 2006
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