Kirche. © Daniela Ließ

2. Brief aus Nizhnij

Ein Blick auf den Kalender verät mir, dass ich inzwischen schon einen Monat im fernen Osten weile. Dennoch kommt es mir so vor, als wären es schon zwei Jahre...

Ich muss sagen, dass es ein ganz schönes Gefühlschaos ist, wenn man sich entscheidet, für ein Jahr alleine ins Ausland zu gehen. Denn kaum hat man den Abschied in Deutschland „gemeistert“, kommen andere Schwierigkeiten und viele neue Eindrücke auf einen zu, so dass man sich wie in einem Karussell fühlt.

© Daniela Ließ

Ich frage mich daher oft, ob ich das alles nicht einfach nur träume...

So habe ich meinen ersten Monat hier eher wie „im Rausch“ erlebt, hin- und hergerissen zwischen Abschiedsschmerz und den Unsicherheiten beim Beginn meines neuen Lebens. Ich kann aber nun doch behaupten, die „Orientierungsphase“ abgeschlossen zu haben und fange an, mich sicherer zu fühlen. Ich habe Freunde in der Uni gefunden, weiß jetzt, wie man am schnellsten mit Bus und Straßenbahn durch die Stadt kommt, wo es mein Lieblingseis gibt (das einfache Sahneeis im Waffelbecher...mhm), wie die Türme der Kremlmauer heißen und welche Verkäuferin auf dem Markt am unfreundlichsten ist.

© Daniela Ließ

Nizhnij ist mir durch viele Streifzüge vertrauter geworden und das macht es irgendwie einfacher für mich.

Auf den ersten Blick wirkte die Stadt für mich ehrlich gesagt nicht wirklich schön: zu groß, zu laut, sehr dreckig und viel zu viele Menschen. Doch langsam bekomme ich einen Blick für die Schönheiten, die man im Gegensatz zu Petersburg nicht sofort präsentiert bekommt, sondern die man selbst entdecken muss: das Flair von Oka und Wolga, die Lage der Stadt auf einer Anhöhe, zahlreiche schöne Kirchen (die oft recht versteckt liegen), der Kreml und interessante architektonische Bauten, das reiche kulturelle Angebot Nizhnijs und nicht zuletzt die Einwohner, bei denen man einen wahren Patriotismus für ihre Stadt spüren kann. Eine Touristenstadt ist Nizhnij eher weniger und damit auch kaum auf diese eingestellt. Für viele, die mich fragen, ist es daher auch verwunderlich, was mich gerade hierher verschlagen hat, wo doch Moskau oder Petersburg als die absoluten Favoriten für einen Auslandsaufenthalt in Russland gelten.

Die meisten bewundern meinen Mut, mich ganz alleine für ein Jahr nach Russland begeben zu wollen. Anscheinend haben sie doch eine Vorstellung, wie sehr sich das russische Leben von dem eines Westeuropäers unterscheidet.

© Daniela Ließ

Der Lebensstandard ist hier wirklich wesentlich niedriger, deshalb wird man schnell gezwungen, westeuropäische Ansprüche abzulegen. Der öffentliche Nahverkehr besteht aus klapprigen Bussen und Straßenbahnen. Die meisten Autos haben das Wort TÜV hier sicher auch noch nie gehört. In der ersten Woche gab es in unserem Haus kein warmes Wasser. Das kommt hier öfter vor, hab ich mir sagen lassen. Genauso wie man stets damit rechnen muss, dass zum Beispiel Türöffner, Bankautomaten oder Ampeln nicht funktionieren. Trotz allem war es für mich nicht schwer, mich an die russischen Lebensumstände zu gewöhnen. Ich schätze mich als weniger anspruchsvoll oder verwöhnt ein und kann auch damit leben, wenn die Fliesen fast von der Wand fallen oder es keinen Kleiderschrank für meine Sachen gibt.

Ich stelle allerdings fest, dass das Leben hier nicht auf einem relativ sicheren sozialen Netz wie in Deutschland basiert, sondern dass der Alltag eines Russen mehr von Glück und Schicksal abhängt. Und wer hier mehr oder weniger Glück hat, ist deutlich an Kleidung und Auftreten auf der Straße zu sehen.

Was mir auch sofort aufgefallen ist, dass man sich hier als Ausländer im Paradies glaubt, wenn man auf die Preisschilder in den Läden schaut. Eine Schachtel Zigaretten kostet umgerechnet etwa 20 Cent, ein einfaches Eis ungefähr einen Cent und eine 80 km lange Fahrt mit dem Vorortzug circa 1,50 Euro. Doch auf der anderen Seite muss man sich vor Augen halten, dass ein Hochschullehrer etwa 100 Euro im Monat verdient und Rentner mit etwa 80 Euro auskommen müssen. Die Hälfte davon gehen für die Miete, Strom und Telefon ab. Der andere Teil reicht also kaum zum Leben aus. Über Geld und Kosten in Deutschland zu reden, ist mir daher richtig unangenehm. Gegenüber den russischen Verhältnissen wirkt selbst die „chronische Pleite“ eines deutschen Studentenlebens lächerlich. Es ist für mich einerseits beschämend, andererseits aber auch beängstigend, wie groß die sozialen Unterschiede doch sind.

Herzliche Grüße aus dem goldenen russischen Herbst,
Daniela Ließ.

Oktober 2005
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